VOLLGENOSSENSCHAFTEN
Wohnen und Arbeiten verbinden
Attraktivität der Genossenschaft für
Gemeinschaftsprojekte wächst
Gemeinsame
Besprechungen und Rituale stärken den Zusammenhalt in Gemeinschaftsprojekten
wie dem Ökodorf Sieben Linde
Als Antwort auf die Kritik der Entfremdung
in unserer Gesellschaft entstehen emanzipatorische Gemeinschaften. In
vielfältigen Projekten von Lebensgemeinschaften, Ökosiedlungen, Kommunen,
Vollgenossenschaften Communities oder Global Ecovillage Networks spiegelt sich
dies wider. Neben der Überwindung individueller und gesellschaftlicher
Entfremdung verfolgen sie Ziele wie inneren und äußeren Frieden,
Selbstverwirklichung, Achtsamkeit und Emanzipation, fast immer verbunden mit dem
Erhalt einer nachhaltigen, unzerstörten Umwelt. Einblick in solche Ansätze in
der Organisationsform der Genossenschaft gibt der CONTRASTE-Schwerpunkt »Wohnen
und Arbeiten verbinden«.
Von Burghard Flieger, Red. Genossenschaften # Die
individuelle Wahrnehmung der Menschen im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit ist
Kennzeichen von Gemeinschaften. Sie sind also sozial bedingt und konstruiert –
zumindest wenn der Gemeinschaftbegriff von Max Weber zugrunde gelegt wird.
Entsprechend spielen Kommunikationstechniken vom Forum über Supervision bis hin
zur Gewaltfreien Kommunikation (GfK) für ihr Handeln und ihre Entwicklung eine
zentrale Rolle. Dies wird bei der Darstellung der Beispiele im Schwerpunkt
»Wohnen und Arbeiten verbinden« deutlich. Der Blickwinkel liegt allerdings
verstärkt auf deren genossenschaftlichen Strukturen.
Instrument und Eigenwert
Einführend skizziert Sonja Menzel die vielfältigen
Anregungen, die Lebensgemeinschaften unter dem Blickwinkel zukünftiger
Entwicklungen für unsere Arbeits- und Wohnwelt mit sich bringen. Das Spektrum
ihrer Antworten ist weit gespannt. Dazu gehört die Reaktion auf die forcierte
Individualisierung durch die Medien- und Computerwelt. Ebenso wichtig ist die
Erweiterung sozialer Kompetenzen aufgrund der Vermittlung von Wissen ohne
Gruppenerfahrungen und der Wandel der Bedürfnisse nach veränderten Wohn- und
Lebensverhältnissen.
Im Mittelpunkt der konkreten Beispiele stehen
Gemeinschaften in Deutschland, die auf die genossenschaftliche
Organisationsstruktur zurückgreifen. Sie werden in der Reihenfolge ihrer
»Jugendlichkeit« dargestellt. Die Vitopia eG startete 2006. Bei ihr steht ein
Wohnprojekt im Vordergrund, ergänzt durch gewerbliche Tätigkeiten wie (Umwelt-)Seminarhaus,
BioCafé und eine Fahrradherberge. Der Ausbau der Räumlichkeiten und die
Entwicklung zur Gemeinschaft prägen zurzeit die Situation.
Gemischte Trägerorganisation
Älter, größer und mit mehr gewerblichen Bereichen
ist die Lebensgemeinschaft Schloss Tonndorf. Sie saniert seit 2005 im südlichen
Weimarer Land ein Anwesen. Ziel und Praxis sind der Erhalt eines Baudenkmals
für eine Wohn-, Arbeits- und Lebensgemeinschaft von bis zu 80 Menschen. Das
regional bedeutende Ensemble der Kulturlandschaft Thüringens wird über die
dafür gegründete Genossenschaft auch für die Allgemeinheit zugänglich
gemacht. Typisch ist die praktizierte Aufteilung der Aktivitäten auf
verschiedene Trägerorganisationen. Unter dem Dach der Genossenschaft wird
gewohnt und gearbeitet. Dagegen laufen der Allgemeinheit dienenden Aktivitäten
wie Naturschutz, Denkmalschutz, Umweltbildung und Kultur über einen
gemeinnützigen Verein.
Zehn Jahre älter und noch einmal erheblich komplexer
ist das Ökodorf Sieben Linden. Unter den Gemeinschaftsprojekten kann Sieben
Linden als »PR-Gigant « bezeichnet werden, häufig präsent in Presse und
Filmen. In der Darstellung stehen die Organisationsstrukturen im Vordergrund:
Zwei Genossenschaften, eine Siedlungs- und eine Wohnungsbaugenossenschaft, sowie
zwei Vereine, ein Bildungs- und Unterstützungsverein sowie ein Verein zur
Organisation der Lebensmittelselbstversorgung. Eine konsequente gemeinsame
Ökonomie umzusetzen, ist bisher nicht gelungen. Auch sind die im Ökodorf
aktiven Betriebe keine Kollektive, sondern Selbständige. Das Spannungsfeld von
Selbstverantwortung und Gemeinschaft prägt das wirtschaftliche Gefüge.
Ständige Veränderungen
Als letztes Beispiel wird eine der »Großmütter« der
Gemeinschaftsprojekte in Deutschland geschildert, die Schäfereigenossenschaft
Finkhof. Sie hat erhebliche Veränderungen im Laufe ihrer über vierzigjährigen
Geschichte erfahren: von der Wohngemeinschaft zum Gemeinschaftsbetrieb hin zum
Kollektivunternehmertum mit Angestellten. Gegenwärtig steht die Diskussion
über eine »Alten-WG« als gemeinsame Perspektive an. Die Genossenschaft wird
für das lange Bestehen des gemeinsamen Zusammenhangs als entscheidend
angesehen. »Stabilität im Wandel« könnte ein charakterisierender Slogan für
diese jahrelang zu den politischen Kommunen zählende Gemeinschaft lauten.
Abgerundet wird der Schwerpunkt durch eine Buchbesprechung, verschiedene
Hinweise und dem Programm einer Tagung am 15. / 16. Juni 2012 in Dessau
mit dem Thema »Wohnen und Arbeiten vernetzen – neue Handlungsfelder für
Genossenschaften«. Sie wird im Bauhaus in Dessau stattfinden.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10