POSTFOSSILE STADTGESTALTUNG
Biotop und Soziotop zugleich:
Urbane Gärten
Gartendeck Hamburg St. Pauli
Foto: Christa Müller
An vielen Orten in Deutschland, Europa und
überall auf der Welt sprießen zur Zeit Gemüseflächen aus dem Boden. Das ist
in der menschlichen Zivilisationsgeschichte nichts Neues, Gemüse baut mensch
schon seit rund 12.000 Jahren an, und nicht von ungefähr wird von jeher das
Paradies als Garten imaginiert, als »Garten Eden« eben.
Von Insa Pohlenga und Ariane Dettloff, Redaktion Köln
Doch in der städtischen Gartengeschichte ändert sich
gerade einiges, es gibt nicht nur eine neue Vielfalt in den Bepflanzungsformen,
auf Hochbeeten oder Vertikalbeeten, auch die »Vielfalt« der GärtnerInnen ist
gestiegen. Ein wirklich wichtiger Unterschied zum althergebrachten
Parzellen-Anbau ist, dass sich die neue Form des Gemüseanbaus als
Gartenbewegung definiert. In vielen Projekten nehmen die GärtnerInnen die Hacke
nicht aus finanzieller Notwendigkeit in die Hand, sondern aus ökologischem
Interesse und aus dem Willen heraus, selbst mehr über den unmittelbaren
Lebensraum in der Stadt zu bestimmen. Doch es gibt auch Beispiele, in denen
verwaiste Städte und Industriebrachen zunächst aus wirtschaftlicher
Notwendigkeit beackert werden, woraus sich dann ein politisches Bewusstsein
entwickelt. Das ist im Artikel über Detroit geschildert.
Was alle diese städtischen Gärten gemeinsam haben,
ist ihr Standort: ungenutzte, meist Beton- oder Schutt-überlagerte Flächen.
Deswegen werden die Pflanzen in Kübeln oder Hochbeeten angebaut, wie es auch am
Beispiel des Kölner »Neulands« zu sehen ist. Der Anbau erfolgt immer
biologisch und weitgehend klimaneutral. Die »Nahesser« verbrauchen keinen
Sprit für elend weite Transportstrecken, Maschinen werden nicht eingesetzt. Die
StadtfarmerInnen behalten die Kontrolle über die Bodenbehandlung und den
gesamten Wachstumszyklus. Ein Schritt in Richtung Nahrungssouveränität, der
angesichts von globaler Finanzkrise und Lebensmittelspekulation nicht nur
sinnvoll, sondern außerdem noch lustvoll daherkommt: ein Element von »buen
vivir«. Besonders in dem Beitrag von Xenofon Zissis, Ingenieur und
Mitbegründer eines urbanen Gartens in Thessaloniki, wird das deutlich.
Viele der urbanen Gärten wurden ursprünglich besetzt
und mit Blumenkübeln geradezu belegt. Im nächsten Schritt wird in den meisten
Fällen mit dem Eigentümer oder der Eigentümerin der Fläche ein
Zwischennutzungsvertrag ausgehandelt. Es gibt aber auch Projekte, in denen die
aktiven GärtnerInnen keine Verhandlungen eingehen, sondern ihre Mobilität
insofern ausnutzen, dass sie mit ihren Gärten von Brachfläche zu Betonbrache
ziehen. Beim gemeinsamen Gärtnern werden zudem oft basisdemokratische
Umgangsformen geübt und gepflegt, bei der Entscheidungsfindung oder dem
Aufteilen des Ertrags.
Dass Städte nicht per definitionem Orte des passiven
Konsums sind, sondern auch Schauplatz von kreativen Neuaneignungen, der
immaterielle wie materielle Dimensionen hat, macht die Bewegung der urbanen
GärtnerInnen deutlich. »Menschen ohne Naturerfahrungen drohen seelisch zu
verkümmern. Das Glück, das Menschen empfinden, wenn sie in Berührung mit
Natur sind, ist Ausdruck davon, dass wir uns aufgehoben und getragen fühlen im
Lebendigen in uns. So lässt sich die Kernthese einer neuen Richtung in den
Lebenswissenschaften auf den Punkt bringen, die zu dem Ergebnis kommt, dass der
Verlust der Natur – im Alltag der Stadt, aber auch der Verlust der
Artenvielfalt – mehr bedeutet als eine klimatische Katastrophe.
Der Biologe und Philosoph Andreas Weber warnt: »Dem
Menschen droht ein emotionaler Verlust, der die Grundstruktur seines Wesens
angreift«, bemerkt die Soziologin und Autorin Christa Müller. Über die
Urban-Gardening-Bewegung und darüber, ob das trendige städtische Gärtnern
eher eine versponnene Utopie oder eine reelle Zukunftsmöglichkeit ist, sprach
CONTRASTE mit Christa Müller, die im übrigen auch warnt, das Gärtnern könne
seitens neoliberaler Politik missbraucht werden, um weiter in noch bestehenden
Sozialsystemen zu wildern: »Dieser Ambivalenz muss man sich bewusst sein, wenn
man dafür plädiert, die öffentlichen Räume für Eigeninitiative und
Selbstversorgung zu vergrößern.«
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10