OFFENE SYSTEME ALS KULTURBRUCH IN EINER VERREGELTEN GESELLSCHAFT
Konservativ oder innovativ?
Alles gehört irgendjemandem. Wenn ich ohne zu
fragen handele, ist es meist schon deshalb falsch, weil ich die Definitionsmacht
anderer über das Erlaubte und Nichterlaubte missachtet habe. Die Grenzen dieser
Welt werden durch die jeweils Mächtigeren oder scheinbar unangreifbare Regeln
definiert. Horizontale Begegnung und Aushandlung als selbstorganisierter und ständig
offener Prozess findet nicht statt.
Redaktion Umweltschutz von Unten - Jedes
Infragestellen der bestehenden Ordnung ruft Ängste und Abwehrkämpfe hervor -
bei denen mit Definitionsmacht über das Geschehen und bei denen, die sich
eingenischt haben in ihren Rollen. Unter solchen und ähnlichen
Rahmenbedingungen wächst jeder Mensch auf - und lernt: Leben ist am
einfachsten, wenn ich einerseits stromlinienförmig die mächtigeren Regeln und
Ansagen beachte oder zumindest nur so umgehe, dass es unbemerkt bleibt.
Gleichzeitig nützt es mir, wenn ich mich im hochkonkurrenten Kampf um
Privilegien und Zugriffe auf Ressourcen (Essen, Wissen, Wohnung,
Durchsetzungsmittel, Beschlüsse, Posten, Arbeitsplätze, SexualpartnerInnen
...) durchsetze, wobei ich wegen der Konkurrenzlogik automatisch andere verdränge.
Chancen, sich durchzusetzen, vor allem aber, verbesserte Durchsetzungsmittel
anzueignen, sollten nie ausgelassen werden ...
Der Rechtsstaat als übergeordnetes Regelungsinstrument verhindert diesen
Konkurrenzkampf des Alltags nicht, sondern gibt ihm bestimmte, aus übergeordneten
Interessen (Profit, Standortkampf der Nationen, Sicherung von Privilegien elitärer
Schichten usw.) abgeleitete Formen. Er verändert also nur, welche
Kampfmassnahmen und -mittel im Konkurrenzkampf Vorteile verschaffen und welche
nicht, aber er stellt ihn nicht als solches in Frage. Die in Rahmenbedingungen
und Regeln gegossenen, übergeordneten Ziele bedeuten in vielen Punkten sogar
eine Verschärfung des Konkurrenzkampfes, z.B. beim Gerangel um Arbeitsplätze
und Waren, die künstlich verknappt werden, oder auf den allgegenwärtigen
Karriereleitern, im Wahlkampfgetümmel, bei der Benotung von Klassenarbeiten
oder bei "Deutschland sucht den Superstar".
In den auf diese Art kulturell geprägten gesellschaftlichen Raum tritt nun die
Idee offener Systeme. Sie können in verschiedener Form organisiert werden, z.B.
als offenes Wissensnetz, in dem alle auf das gesamte Wissen aller zugreifen können
oder in Form offener gemeinsamer Produktion, die keine Lenkung und keinen
vorgegebenen Zweck verfolgt, sondern von den AkteurInnen jeweils in die
Richtungen weiter getrieben wird, die ihren Interessen entsprechen. Die bislang
erfolgreichsten Beispiele bekannter offener Systeme stammen aus der
Open-Source-Software, d.h. solche Computerprogramme und -betriebssysteme, deren
Quellcode offen liegt und wo jede Person (das Wissen um Programmierung und die
technische Grundausstattung vorausgesetzt - durchaus ein Knackpunkt!) nach
eigenen Interessen neue Entwicklungen starten und voranbringen kann. Ein
genauerer Blick auf den Alltag der Menschen würde wahrscheinlich weit ältere,
komplexere offene Systeme spontaner oder strategischer Kooperation offenbaren,
die aber hinter den Fassaden der Privatsphäre bislang verborgen blieben, z.B.
Netzwerke gegenseitiger Hilfe, Aneignung von Wissen usw.
Der Logik offener Systeme entspricht auch die Idee des "Offenen
Raumes" im Sinne eines tatsächlich gebauten Raumes, Hauses oder eines
Platzes. Die Entscheidung, auf jegliche kollektive Kontrolle und Bedingung im
Raum zu verzichten, gleichzeitig aber offensiv Formen horizontaler
Kommunikation, Streitkultur, direkter Intervention und Klärung von
Interessensgegensätzen, Anbahnung von Kooperation und Ressourcenzugriff
aufzubauen, bedeutet, innerhalb des Falschen
(aus emanzipatorischer Sicht) das Richtige zu versuchen. Das ist gewagt und auch
unmöglich - folgt mensch dem Denkmodell des "Es gibt nichts Richtiges im
Falschen" bei seinem Schöpfer Adorno. Vier wichtige Punkte würden dabei
aber übersehen:
1. Nur der Versuch des "Richtigen im Falschen" schafft die aus dem
praktischen Versuch zu gewinnenden Erkenntnisse einerseits über vorhandene,
verschiebbare und (zur Zeit) nicht überwindbare Grenzen und andererseits über
bestehende und neue Handlungsmöglichkeiten. Der Verzicht auf Praxis wäre daher
auch für die Entwicklung von Ideen und Theorien ein schwerer Mangel, weil ein
wichtiger Input schlicht ausfällt (das gilt immer!).
2. Das Scheitern ist Ausgangspunkt des Ringens um die Verbesserung der
Rahmenbedingungen, d.h. der Versuch des Neuen verbindet sich im Experiment dann
mit dem Widerständigen, wenn das Anecken bewusst als Teil des Prozesses
begriffen und zu widerständigen Handlungen transformiert wird.
3. Selbst dann, wenn das "Richtige" nicht erreicht werden kann, können
auch teilweise Veränderungen sinnvoll sein. Die eigene Lebensrealität formen,
sich stückweise befreien und mehr Handlungsspielraum erobern sind wichtige
Schritte des immerwährenden Prozesses von Emanzipation.
4. Die Kategorien "richtig" und "falsch" sind selbst eine völlig
unbegründete Reduzierung sozialer Komplexität auf binäre Einteilungen. Aus
emanzipatorischer Sicht sind diese beiden Begriffe eher störend, weil sie
notwendigerweise mit einem vereinheitlichenden Maßstab verbunden sind, der dann
das Prozesshafte zugunsten eines starren Systems der Bewertung abwürgt.
Insofern ist das Experimentieren mit Formen der Befreiung Teil von Emanzipation.
Ob die Idee der "offenen Räume" dabei nur ein Minidetail oder eine
bahnbrechende Veränderung organisatorischer Rahmenbedingungen sein wird, ob es
länger als Idee bestehen würde oder sofort durch weitere Entwicklungen wieder
hinweggespült wird - das alles kann zu diesem Zeitpunkt dahingestellt sein.
Denn das Experiment des Neuen basiert auf der Logik, keine Gewissheit über die
Zukunft zu haben, sondern eigentlich nur eines ganz klar zu haben: Das
Bestehende will ich nicht krampfhaft verteidigen. Es reicht mir nicht, ich will
mehr, weiter, es drängt mich zu Neuem.
Konservativ gegen innovativ
Die Idee "offener Räume" ist zwar alt, aber als strategische
Debatte auch in politischen Bewegungen erst in der letzten Zeit wieder in Gang
gekommen. Katalysator dafür waren unter anderem die Sozialforen, die von ihrem
Ursprungsgedanken (Charta von Porto Alegre) als offene Räume konzipiert waren,
aber in der Realität durch den Zugriff überlegener Akteure wie den großen
NGOs (Attac, MST & Co.), den sich einmischenden Parteien (z.B. die
brasilianische PT, von Deutschland aus vor allem Rosa-Luxemburg- und Heinrich-Böll-Stiftung
mit massiven Vereinnahmungs-Operationen) und einigen populären bis
populistischen, von Linken gehypten Führerfiguren (v.a. Lula aus Brasilien und
Chavéz aus Venezuela). Dennoch bietet die Auswertung des Experiments
"Sozialforum" wichtige Hinweise auf Handlungsmöglichkeiten, Grenzen
und Strategien der Überwindung.
Auf ähnliche Weise lassen sich offene Aktionskonzepte der Vergangenheit
auswerten, z.B. der Castor-Widerstand oder die Proteste von Seattle und Genua.
Ihnen gemeinsam war das Fehlen einer Kontrolle - sei es per Leitungsgremium oder
konsensualem Gleichschaltungsprozess. Die Wirkung der stärker auf Autonomie und
Kooperation gestützten "offenen Aktionsräume" in den genannten Fällen
geben deutliche Hinweise auf die Potentiale, die durch die weiterentwickelte
Selbstentfaltung der Beteiligten entstehen können.
Demgegenüber wirken Konzepte kontrollierter Abläufe auffällig starr bis
langweilig. Gut sichtbar ist das an den Protesten gegen die
NATO-Sicherheitskonferenz in München. Im ersten Jahr der massiven Gegenwehr war
durch das Verbot aller Demonstrationen auch die interne Kontrolle stark gehemmt,
da die Durchplanung der Demonstrations-Formation der klassische Kontrollvorgang
innerhalb politischer Aktionsplanung darstellt. Die Folge war, das in diesem
Jahr der totalen Aktionsverbote seitens des autoritären Staates und der
geringen internen Kontrolle die Proteste in einer Art vielfältig waren, wie es
später nie mehr der Fall war, als der Staat die formalisierten
Protesthandlungen wieder zuließ und die interne Kontrolle stärker griff.
Solche Beispiele wären etliche zu nennen. Dahinter steckt neben Machtansprüchen
oft schlicht die Angst vor dem kontrollfreien Raum. Dieser ist immer offen,
dynamisch, unvorhersehbar und daher auch unberechenbar. Politische Steuerung müsste
zugunsten der Förderung von Kooperation und Selbstorganisierung wegfallen.
Diese beiden Konzepte der Organisierung - Kontrolle und Offenheit - stehen
konkurrierend gegenüber. Der kontrollierte Raum ist dabei immer konservativ,
denn er beruft sich auf Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die aus der
Vergangenheit stammen, sich dort durchsetzten bzw. als sinnvoll erachtet wurden.
Formalisierte Entscheidungsabläufe wie Abstimmungen im Kollektiv oder gar die
Notwendigkeit zum Konsens können solche Normen aus dem Gestern über lange Zeit
gültig erhalten, obwohl längst neue Ideen bestehen und Menschen vorwärtsdrängen.
Sie werden aufgehalten von den Strukturen, die das Gestern stärken. Im
"offenen Raum" hat das Gestern kein Privileg gegen dem Morgen. Wer
schon da ist, ist (zumindest formal) nicht stärker als die, die hinzukommen.
Neue Ideen haben die gleiche Chance wie die Bestehenden.
Weiterentwicklung ohne Zerstörung?
Daraus folgt zumindest bei begrenzten Ressourcen ein Problem. Wo z.B. nicht
genügend Räume für Aktivitäten, Wohnungen, Werkstätten u.ä. vorhanden
sind, würden neue Ideen alte verdrängen müssen. Wo Neues nur möglich ist,
wenn das Bisherige (über ihre VertreterInnen) zugestimmt hat, ist kein offener
Raum vorhanden. Wo das Bisherige aber, obwohl es noch Interesse daran gibt,
verschwindet, weil etwas Neues verwirklicht wird, geht das Hauptziel des offenen
Raumes verloren: Die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Daher wird ein
Ziel der zukünftigen Entwicklung sein, Methoden zu finden, wie neue Ideen sich
verwirklichen können ohne bestehende Handlungsmöglichkeiten zu verdrängen. Im
Sinne sich erweiternder Handlungsmöglichkeiten ist nicht die Konkurrenz und
nachfolgend die gegenseitige Verdrängung, sondern die Erweiterung und die
Kooperation zwischen den verschiedenen Teilen die Grundlage offener Systeme.
Insofern müssen Wege gefunden werden, wie Neues ein Mehr ist.
Naheliegend ist, dass daraus ein Interesse aller entstehen kann, bestehende
Grenzen zu überwinden - eine echte Kooperation mit gemeinsamem Nutzen. Solches
Denken der Gleichberechtigung von Neuem und Bestehendem sowie dem Ende von
Konkurrenzprinzipien zwischen den Teilen im Kampf um die Ressourcen ist ein
Kulturbruch im Hier und Jetzt. Schon deshalb wird der Versuch von Streit,
Knirschen im Getriebe des sozialen Prozesses und etlichen Niederlagen geprägt
sein.
Der Rückfall in das Alte aber würde nur den Versuch der Überwindung des Üblichen
ganz beenden. Doch die Verbindung von Widerstand und Vision ist Teil des Weges
zu einer herrschaftsfreien Welt, die vor allem eine offene sein wird, eine der
Selbstentfaltung, der Vielfalt und der sich ständig ausweitenden Handlungsmöglichkeiten
aller Menschen. Diese Utopie ist der Antrieb, die Experimente offener Räume zu
starten - immer wieder. Auch wenn noch so viele Gestrige dafür plädieren, in
den sicheren Hafen der Regeln von Gestern zurückzukehren - ob sie Hausrecht,
Konsens, Definitionsmacht oder wie auch immer heißen. Niemand ist gezwungen,
gleich das ganze Leben und alle Räume in offene zu verwandeln. Aber überall
Kontrolle und Bedingungen zu haben heißt, erstarrt zu sein.
"Offener Raum" ist nicht alles
Am Schluss dieses Textes soll noch ein Hinweis erfolgen, der eigentlich
selbstverständlich ist: Die Idee des Offenen Raumes ist nicht alles. Sie kann
nur ein Experimentierfeld der Emanzipation sein - neben vielen anderen.
Befreiung, Selbstbestimmung, Selbstorganisierung und Horizontalität sind etwas
komplexes, dynamisches, endloses. "Offene Räume" sind ein Baustein,
vielleicht auch selbst wieder nur eine Übergangsform zu später weiter
vorangetriebenen Ideen. Das aber wäre schon viel. Altes in Frage stellen, neue
Idee hervorbringen und konkrete Veränderung bewirken werden hoffentlich Folge
des Experiments sein.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10