In
der gesellschaftlichen Zwickmühle
Als
sich im 12. und 13. Jahrhundert unter dem Einfluß von Waldes immer mehr
Menschen zu dem Ideal der Armut bekannten und als asketische, bettelnde
Wanderprediger vor allem durch Südfrankreich zogen, fühlte sich die damalige römisch-katholische
Kirche herausgefordert; sie empfand die auf selbständige, bibelorientierte,
asketische Frömmigkeit zielenden Waldenser als Auflehnung gegen die kirchliche
Autorität. Sie fühlte sich durch die starke Verbreitung der Waldenser und
anderer religiöser Gruppen bedroht. Es kam deshalb zu Exkommunikation und gründlich-grausamer
Verfolgung. Offenbar entging es der Kirche dennoch nicht, daß die Waldenser mit
ihrem Verständnis von Christentum zentrale Inhalte christlicher Überlieferung
leben wollten und lebten. Deshalb wurden diese urchristlichen Inhalte
aufgenommen und mit einer Organisationsform verbunden, die sich nahtlos
gewinnbringend in die hierarchische Struktur der Kirche einbinden ließ: es
entstanden die Bettelorden, von denen in der Folgezeit vor allem die
Franziskaner (Franz v. Assisi) und Dominikaner, mit päpstlichen Privilegien
ausgestattet, auf Kosten der Waldenser und der anderen christlichen Sekten
rasche Verbreitung fanden. Im drohenden Zerfall hatte die Kirche die
grundlegenden Ideen von der innerkirchlichen Opposition selektiv übernommen und
durch Integration zu einer wirksamen Erneuerung gefunden.
In
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Kaiserswerth von Fliedner, in
Neuendettlsau von Löhe und in weiteren Orten von anderen Diakonissenhäuser
gegründet. In einer Zeit rapiden Bevölkerungswachstums und sozialen Elends
wurden dadurch zwei wesentliche Probleme angepackt. Einerseits brachte der
Eintritt in die Diakonissenhäuser unverheirateten Bauerntöchtern lebenslange
Versorgung und sinnvolle Tätigkeit im Dienst der Nächstenliebe, verringerte
auch den Armutsdruck auf die kleineren Höfe. Andererseits konnte auf diese
Weise das ständig steigende Elend gemindert werden. Die Gründer mußten die
Mutterhäuser freilich in freier Organisation außerhalb der Kirchen und
jedenfalls in der ersten Phase gegen deren Widerstand aufbauen, weil ihre Arbeit
von der kirchlichen Öffentlichkeit und den Kirchenleitungen abgelehnt wurde.
Einer merklichen Zahl anderer sozialer Einrichtungen erging es ähnlich.
Gleichzeitig aber entfremdeten sich weite Kreise der Arbeiter und des Bürgertums
von den protestantischen Kirchen. Auch hier konnten die Kirchen auf Dauer nicht
übersehen, daß Diakonie ein zentraler Bestandteil christlicher Überlieferung
ist und aus reinem tiefen, oft pietistischen Glauben heraus wuchs. Es kam dann
schließlich doch noch zu Übereinkünften und gemeinsamer Arbeit. Nach der
gegenwärtigen Darstellung in den Lehrbüchern könnte man den Eindruck
gewinnen, als ob diese Diakonie immer wesentlicher Ausdruck protestantischer
Kirchen gewesen sei; die damaligen Außenseiter wurden als tragende Säulen
kirchlichen Lebens vereinnahmt.
Der
sozialistische deutsche Studentenbund legte in den 50erJahren Hochschulkonzepte
vor, die als revolutionär und deshalb unannehmbar galten Die
Hochschulverfassungen zu Beginn der 70er Jahre ...Und ...Und ...
Wer
sich die Zeit nimmt, wird in historischen und zeitgeschichtlichen Dokumenten bis
in die Gegenwart eine Fülle vergleichbarer Vorgänge finden. Ich möchte hier
nicht Geschichten aus der Geschichte um ihrer selbst willen erzählen, sondern
an ihnen die gesellschaftliche Funktion eines bestimmten Typs gesellschaftlicher
Opposition in Krisenzeiten verdeutlichen. Dieser Typ gesellschaftlicher
Opposition umfaßt – wie die Beispiele zeigen – soziale Bewegungen, deren
Teilhaber sich zentrale Ziele und moralische Grundwerte der traditionellen
Gesellschaft zu eigen machen, konsequent in gegenwartsbezogener Form auch in
ihrer Lebensführung umsetzen, aber insgesamt innerhalb des normativen Rahmens
der Gesellschaft bleiben. Solche Opposition entsteht in gesellschaftlichen
Krisenzeiten, wenn nämlich größere Bevölkerungsteile ihrer materiellen
und/oder immateriellen Lebensgrundlagen beraubt werden und nach neuen zukunftsfähigen
Lebensperspektiven suchen. Die Entwicklung solcher gegenwartsbezogener
Lebensperspektiven und entsprechender Modelle des Zusammenlebens erfolgt durch
gegenwartsbezogene, neue Interpretationen traditioneller Werte und bedeutet
deshalb soziale Innovation. Gerade das Anknüpfen an eingelebten Werten ermöglicht
aber größeren Kreisen der Gesellschaft die Teilnahme und Mitwirkung, die als
Wiederbelebung der "wahren" gesellschaftlichen Werte verstanden werden
können. Soziale Innovation aber bringt die oppositionelle Gruppe nahezu zwangsläufig
in einen Gegensatz zu den etablierten Machthabern, die an der Erhaltung des
gegenwärtigen Zustands, d.h. ihrer Interpretation der traditionellen Werte und
ihres Umgangs damit interessiert sind, um ihre Privilegien zu sichern.
In
solchen Auseinandersetzungen werden der oppositionellen Gruppe mehrere
Funktionen zuteil. Erstens bietet sie für bestimmte Bevölkerungsteile ein
attraktives Potential gegenwartsbezogener Lebensperspektiven und Modelle des
Zusammenlebens. Insofern können viele einzelne Personen Möglichkeiten zur
Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse gewinnen. Für den Überwiegenden
Teil der Gesellschaft, vor allem für deren Machthaber, muß die oppositionelle
Gruppe zweitens als Sündenbock herhalten; sie zieht vom Lächerlichmachen über
Diskriminierung, Kriminalisierung bis zur Ausrottung alle denkbaren zeitüblichen
Bekämpfungspraktiken auf sich. Je weniger Erfolge die dominante Gesellschaft
mit ihren Bekämpfungsmaßnahmen erzielt, desto wahrscheinlicher werden die
Versuche der gesellschaftlichen Machthaber, brauchbare innovative Ideen,
Konzepte und Modelle selektiv in die Gesellschaftsstruktur einzubauen und damit
unter Kontrolle zu stellen. Diese Integration kann mit einer entschädigungslosen
Enteignung sozialer Erfindungen verglichen werden. Die Gesellschaftsstruktur
wird dadurch jedoch soweit geändert, daß sie bestimmten Teilen der Bevölkerung
wieder ermöglicht, ihre aktuellen Bedürfnisse einigermaßen zu befriedigen.
Damit sinkt bei anderen die Neigung, sich der oppositionellen Gruppe anzuschließen,
in welcher Form auch immer. So werden viertens Personen, die mit der
oppositionellen Gruppe liebäugeln, in die neue gesellschaftliche Normalität
zurückgelenkt. Man kann jetzt sozial konform die neuen Lebensperspektiven –
natürlich in der qualitativen Auszehrung der gesellschaftlichen Institutionen
– übernehmen, ohne sich durch die Mitwirkung in der oppositionellen Gruppe
als Außenseiter zu exponieren. Die oppositionelle Gruppe büßt deshalb fünftens
viel von ihrer Attraktivität ein oder verschwindet schließlich ganz. Sechstens
ist freilich das Ziel der oppositionellen Gruppe, die Gesellschaft auf eine
lebensnahe Gestaltung hin zu verändern, allenfalls teilweise erreicht. Denn die
Selektion ihrer Ideen, Konzepte und Modelle und deren Integration in überkommenen
Strukturen entfremdet diese ihrer Eigenart und weist ihnen einen anderen
Stellenwert in der Gesellschaft zu. Damit gewinnen die gesellschaftlichen
Strukturen Zug um Zug ihre lebensfremde Prägung. Der Prozeß der Erneuerung
durch eine Opposition wird schließlich wieder aktuell. Ich fasse zusammen: Die
oppositionelle Gruppe stellt als beachtliche materielle und immaterielle
Leistung wesentliches Innovationspotential zur Erneuerung und Stabilisierung der
Gesellschaft bereit. Im Prozeß der gesellschaftlichen Aneignung bzw. Enteignung
wird sie bekämpft und verliert an Bedeutung, ohne an den Ergebnissen ihrer
Arbeit teilzuhaben und ohne letztlich ihre Ziele erreicht zu haben.
Ich
meine, die Alternativen sind zu diesem Typ gesellschaftlicher Opposition zu
rechnen und unterliegen deshalb den geschilderten gesellschaftlichen Prozessen.
In ihrer Mehrzahl beziehen sich die Alternativen trotz mancher Unterschiede und
Gegensätze auf eingelebte Werte: Naturschutz im Sinne der Erhaltung der natürlichen
Lebensbedingungen, Selbstbestimmung als zentraler Ausdruck individueller Rechte
und der Würde des Menschen, Ablehnung von Atomkraftwerken und Frieden als
Verantwortung für das Leben und zukünftige Generationen ...
Beides
ist voll im Gange: die Bekämpfung der Alternativen und die Integration ihrer
Ideen, Konzepte, Modelle. Ihre Bekämpfung erfolgt auf verschiedene Weise:
Unterwanderung von Friedens- und Antikernkraftinitiativen durch Vertrauensleute
der Polizei; Kriminalisierung über strafrechtliche Subsumierung von Sitzstreiks
und passivem Widerstand unter den Begriff der Gewalt in der Form der Nötigung;
Behinderung zahlreicher Projekte und Initiativen auf dem Verwaltungswege;
Versuche, durch Einschränkung des Demonstrationsrechts Bewußtseinsbildung in
der Öffentlichkeit und sozialen Druck auf Behörden und Verfassungsorgane zu
vermindern oder zu verhindern; offensichtliche Benachteiligung von
selbstverwalteten Betrieben bei der Finanzierung bzw. Bezuschussung neuer
Arbeitsplätze, die in der Industrie bis 200.000,- DM, bei den Alternativen
allenfalls bis 20.000,- DM gefördert werden...
Auch
die selektive Integration hat begonnen: man denke an die auswählende Förderung
von Selbsthilfegruppen in Berlin, wo nur Selbsthilfegruppen gefördert werden,
die in die sozial- und familienpolitischen Vorstellungen des Senats passen, auch
sonst werden Selbsthilfegruppen aus der Szene gefördert, wenn ihre Kontrolle
sichergestellt werden kann, Selbstbestimmung? Alternative Projekte in der
Jugendarbeit werden zunehmend von Jugendämtern gefördert; die Grünen werden
in mehreren Kommunalgemeinden und einigen Bundesländern als Koalitionspartner
umworben. Dieses Drängen der etablierten Parteien, die "Grünen"
sollten als parteipolitische Vertretung der Alternativen endlich politische
Verantwortung übernehmen, ist nichts anderes als das Lockangebot, sich – mit
entsprechenden Privilegien – integrieren zu lassen und sich am sattsam
bekannten Kungelfilz zu beteiligen. Gemeint wird hier offensichtlich weniger die
Beteiligung an der Macht, als vielmehr die Disziplinierung durch die Macht.
Damit wäre der Anfang vom Ende des alternativen Einflusses eingeläutet.
Die
aufgezeigten geschichtlichen Mechanismen machen deutlich, daß die Alternativen
die geschichtliche Funktion haben, der Gesellschaft in der BRD zur
Erneuerung zukunftsfähige soziale und kulturelle Perspektiven und Modelle
bereitzustellen, nach deren selektiver Integration in die überkommene
Gesellschaft sie in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Alternative Szene als
Mode, Welle, vorübergehender Hit mit systemstabilisierender Wirkung? Im Sinne
einer nachhaltigen Wirkung wäre anzustreben, daß die Alternativen sich der
Integration bzw. Enteignung ihrer Ideen, Konzepte, Modelle möglichst lange
entziehen und das harte Los gesellschaftlicher Opposition auf sich nehmen; je länger,
um so besser für diese Gesellschaft.
Hans
Dietrich Engelhardt
Literaturhinweise:
Wer
sich genauer informieren will, kann dies tun im:
–
FORUM 24/84, in dem man einen ausführlichen Artikel von H.D. Engelhardt zu
„Selbsthilfegruppen in der sozialpolitischen Auseinandersetzung“ finden
kann. Zu beziehen ist das Forum für 2,50 DM plus Versandkosten bei der AG SPAK
Bundesgeschäftsstelle, Kistlerstr. 1, 8000 München 90
oder
in unseren Büchern
–
„Alternativen zum Irrenhaus“ (aus der Arbeit von Beschwerdezentren KOMMRUM,
Aktionskreis 71) AG SPAK Publikationen, 12,80 DM.
–
„Unser Wir“ (Erlebnisbericht vom Leben und Arbeiten in einer
Jugendwohngemeinschaft). Bezug siehe oben, 7 DM.