GESINNUNGS- UND KLASSENJUSTIZ
Arm und süchtig
Foto aus "Strafanstalt", erschienen im
Seitenhieb-Verlag
Wenn von Klassenjustiz die Rede ist, dann
denken auch große Teile der Linken an die Prozesse gegen GenossInnen. Ein
großes Missverständnis, wie wir meinen. Bei diesen Prozessen werden die
GenossInnen wegen ihres unerwünschten politischen Verhaltens und nicht aufgrund
ihrer Klassenzugehörigkeit verfolgt. Letztendlich wird ihre Gesinnung
kriminalisiert. Dies bezeichnen wir als Gesinnungsjustiz. Natürlich müssen wir
dagegen kämpfen. Mit Klassenjustiz hat es aber erstmal wenig zu tun.
Klassenjustiz bedeutet, dass jemand aufgrund seines sozialen Status, wir sagen
dazu Klassenzugehörigkeit, "bessere Chancen" hat, im Knast zu landen.
In den USA heißt es, wenn Du arm und schwarz bist, hast du gute Chancen in den
Knast zu kommen.
Gerhard Linner, Autonomes Knastprojekt - Ein
Blick in die Gefängnisse zeigt, dass es hierzulande nicht viel anders ist. Dies
hat mehrere Gründe. Da wäre zunächst die Frage, was das bürgerliche Recht
als strafwürdiges Vergehen definiert. Es gibt ja dieses berühmte Zitat, das
bürgerliche Gleichheit betrifft und da lautet: "Die großartige Gleichheit
vor dem Gesetz verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen,
auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen." (1)
Da sind wir schon beim Ausgangspunkt der Klassenjustiz. Was wird als strafbar
definiert? JedeR weiß, es gibt übelste Verhaltensweisen in dieser
Gesellschaft, die aber alle nicht strafbar sind. Grundsätzlich lässt sich
sagen, dass die Verbrechen der Reichen, der Kapitalisten nicht oder kaum
verfolgt werden. Die Ausbeutung von Abhängigen und Süchtigen ist der Kern des
Kapitalismus. Oberstes Ziel eines Kapitalisten ist die Schaffung eines Monopols
oder zumindest eines Oligopols (ein Oligopol ist ein Monopol, das sich eine
Handvoll Kapitalisten teilt). Beispiel Tabakindustrie, Benzinmarkt, Gasmarkt,
Strommarkt usw.
Nun gut, bei manchen Abhängigkeiten mag es möglich sein, der Ausbeutung
durch das kapitalistische Monopol/ Oligopol zu entgehen. So kann der Gaskunde
seine Heizung theoretisch auf Holz umstellen. In der Praxis ist dies allerdings
nur Hausbesitzern und nicht MieterInnen möglich. Noch schwieriger ist es für
Süchtige. Nicht alle starken RaucherInnen schaffen es, damit aufzuhören.
Jährlich verlieren zigtausende RaucherInnen ihre Beine oder ihr Leben. Die
Tabakindustrie weiß dies genauso wie die Politik. Zigtausendfache
Körperverletzung und Tötung. Ist deshalb schon ein Tabakboss schon im Knast
gelandet? Jetzt werden manche sagen, die Süchtigen sind ja selber schuld.
Zwingt sie ja niemand, sich zu Tode zu rauchen. Schönes Argument. Das Gleiche
könnte mensch ja auch bei Heroindealern sagen. Zwingt ja niemand die Junkies -
oder? Warum also noch Heroindealer verurteilen. Würde doch reichen, wenn die
Beipackzettel dazu packen, auf denen steht, dass Heroin nicht gesund ist.
Die meisten "legalen" Drogen sind zwar teuer, aber irgendwie doch
noch mit einem "normalen" Einkommen finanzierbar. Wären alle
Alkoholiker und RaucherInnen zur Beschaffungskriminalität gezwungen, so hätten
wir ein Vielfaches an Gefangenen in diesem Land.
Allerdings gibt es auch bei den legalen Süchten eine große Ausnahme: die
Spielsucht. JedeR kennt die sog. Daddelhallen, die vor allem in den Stadtteilen,
in denen die Ärmeren wohnen, wie Pilze aus dem Boden schießen. Nicht nur, weil
ich selbst betroffen bin, sondern auch aufgrund meiner Knastzeit weiß ich, dass
die Knäste voll mit Spielsüchtigen sind. Wer an den sog. Groschenräubern
(welch verharmlosender Ausdruck, denn diese Maschinen fressen Tausender und
nicht Groschen) zockt, kann dies sehr bald nicht mehr auf legalem Weg
finanzieren. Dies weiß die Automatenindustrie genauso wie es die PolitikerInnen
wissen. Trotzdem werden immer neue Automaten mit immer höherem Suchtpotential
entwickelt. Warum auch nicht? Schließlich verdienen alle daran. Der Staat
kassiert kräftig mit und für die Automatenaufsteller bleibt auch noch genug
übrig. Und die Süchtigen? Nun, zu Beginn wird das Konto bis zum Anschlag
überzogen. Dann wird gearbeitet bis zum Umfallen. Oft auch schwarz. Irgendwann
reicht auch das nicht mehr. Dann beginnt die sog. Kriminalität.
Unterschlagungen, solange es noch geht und dann oftmals Raubüberfälle.
Ich selbst hab 10 Jahre im Knast verbracht, wegen meiner Sucht. Kein Grund
weh zu klagen. Selber schuld. Vielleicht habe ich einfach nicht genug dazu
beigetragen, den Kapitalismus zu überwinden und die Ausbeutung von Abhängigen
gehört nun mal zu den Grundprinzipien der kapitalistischen Ordnung. Klar, dies
ist nur ein Aspekt der Klassenjustiz, aber irgendwie habe ich mich
(wahrscheinlich aus eigener Betroffenheit) jetzt an diesem Punkt fest gebissen,
statt den hochtheoretischen Gesamtüberblick über das Wesen der Klassenjustiz
zu liefern. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.
1) Anatole France, "Le lys rouge",
1894 (Original franz. "La majestueuse égalité des lois interdit aux
riches comme aux pauvres de coucher sous les ponts, de mendier dans la rue et de
voler du pain.")
Schwerpunktthema Seite 7 bis 9