SOLIDARISCHE ÖKONOMIE
Aufbruchssignal aus Berlin
Foto: Matthias Breiter/Antenberger
In einer Welt, in der nicht nur Lebensmittel
oder Kleidung sondern zunehmend auch zwischenmenschliche Beziehungen zur Ware
(und zu Kapital) werden und ein individualisierender Konkurrenzkampf das Leben
bestimmt, wird von vielen Menschen Solidarität (gegenseitige Hilfe zu
beiderseitigem Nutzen) als bedeutsam und dringend nötig erlebt. Auf dem
Kongress "Wie wollen wir wirtschaften? Solidarische Ökonomie im
globalisierten Kapitalismus" in Berlin wurde deutlich, dass viele Menschen,
die sich bisher in der globalisierungskritischen Bewegung oder an der
Gewerkschaftsbasis und in anderen Bereichen engagierten, mehr praktische
Solidarität in ihren Alltag holen wollen. Das Stichwort "Solidarische Ökonomie"
brachte dieses Bedürfnis treffend auf den Punkt.
Hilmar Kunath, Redaktion Hamburg - Auf dem
Kongress scheint es tatsächlich gelungen zu sein, die in den letzten
Jahrzehnten entstandenen Versuche und Ansätze "alternativen"
Wirtschaftens (Kommunen, Lebensgemeinschaften, Wohn- und Hausprojekte,
Energieinitiativen, Regiogeld-Initiativen, Tauschringe, Umsonstläden,
Genossenschaften der einen oder anderen Art und andere Projekte) einen Schritt
aus ihrer gesellschaftlichen Isolation heraus zu holen und mit den Bewegungen
gegen die Auswirkungen eines globalisierten Kapitalismus in Gespräche zu
bringen. Diese Begegnung machte auch einen Teil der positiven Stimmung auf dem
Kongress aus. Man sprach "fraktionsübergreifend" miteinander.
Wo ein Bedürfnis da ist und die Begriffe zunächst fehlen, da stellt ein
neues Wort sich ein: "Solidarische Ökonomie"? Was aber könnte
"Solidarische Ökonomie" für Menschen bedeuten, die sich gegen eine
Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse wehren und den von der allgemeinen
Privatproduktion angetriebenen Konkurrenzkampf "jeder gegen jeden"
nicht mehr mitmachen wollen?
Eine große Mehrheit der in Berlin Anwesenden neigte wohl dazu, zunächst
kollektiv, unter Hintanstellung des Gewinnmotivs, auf den Markt zu gehen. Dabei
wird zwar das Kapital, nicht jedoch Waren und Geld in ihrer Nützlichkeit in
Frage gestellt. Eine Minderheit hingegen machte auf die praktischen Erfahrungen
der letzten Jahrzehnte aufmerksam, wonach tausende Projekte und Betriebe, die
"kollektiv" "auf den Markt" gegangen waren, sich binnen
weniger Jahre zu ganz "normalen" privatwirtschaftlichen und
hierarchisch strukturierten Gebilden zurückentwickelt hätten. In der Mehrzahl
hätten sie - in ihren Bemühungen, sich konkurrenzfähig auf dem Markt zu
bewegen - nicht einmal mehr die Zeit genommen, über ihre eigene Rückentwicklung
nachzudenken. Verständlich ist es daher, wenn nun die in Berlin neu in Richtung
Ware, Geld und Markt Aufbrechenden gefragt wurden, ob sie diesen wiederum höchst
wahrscheinlichen Anpassungsprozess noch einmal durchleben wollten.
Positiv für eine Weiterentwicklung der zahlreichen in Berlin vertretenen
Projekte ist die erkennbare Bereitschaft vieler einzelner Menschen, unabhängig
davon, wie "antikapitalistisch" oder "wertkritisch" man sich
begreifen könnte, sich für Initiativen solidarischen Wirtschaftens in ihrem
Alltag zu öffnen.
Deshalb ist es auch nach dem Kongress wichtig, von allen anerkannte Orte der
Information über die Projektvielfalt, der Erfahrungsvermittlung und
solidarischer Diskussion zu schaffen. Der "Serviceknoten für ein
Kommunikationsnetz von Solidargemeinschaften" (siehe Seite 7) soll ein
erster Ansatz dazu sein.
CONTRASTE greift die Debatte mit Beiträgen in dieser Ausgabe auf. Wir hoffen
auf weitere Beiträge zu der Frage, wie der Ansatz solidarischer Ökonomie
sowohl weiter mit Praxis als auch mit kritischem Verständnis gefüllt werden könnte.
Die zwei Artikel zu Umsonstläden sollen für eine "neue Ehrlichkeit"
beim Berichten über selbstorganisierte Projekte stehen.
Schwerpunktthema auf den Seiten 7 bis 11
REDAKTIONELLE BEMERKUNG
Aus aktuellem Anlass hat die CONTRASTE-Redaktion den für diese Ausgabe
geplanten Schwerpunkt über "Umsonstläden - wie weiter" in eine
Berichterstattung vom Kongress "Solidarische Ökonomie" vom 24. bis
26. Nov. 2006 in Berlin umgestaltet. Weitere Berichte und Artikel zur
Entwicklung von Umsonstläden folgen deshalb später. Auch weitere Berichte vom
offensichtlich anregenden Kongress sind der CONTRASTE willkommen.