ANDERS ARBEITEN
Was bringt Eigenarbeit?
Frauenkooperation bei der Eigenarbeit, Foto:
Haus der Eigenarbeit München
Warum müht sich Zahnarzt Thomas W. an der
Hobelbank im Münchner Haus der Eigenarbeit ab, glättet unhandliche
Birkenholzbretter, aus denen er später eine Regalwand für sein Wohnzimmer
bauen will? "Mich macht es richtig stolz, wenn ich etwas selbst hergestellt
habe. Das gibt es nirgendwo zu kaufen. Selber machen ist etwas ganz
Individuelles und für mich inzwischen sehr wichtig, schon deshalb, weil ich
dabei so gut entspannen kann."
Elisabeth Redler, Ingrid Reinecke,
Forschungsgesellschaft anstiftung gGmbH, München - Was bringt Annette
Feiersinger, Schreinerin im Kemptener Kempodium und Mutter von zwei
Kindern, dazu, ein handwerkliches Projekt für Grundschulklassen zu kreieren?
"Handwerkliches Arbeiten kommt in unserem Schulsystem zu kurz. Ich habe
aber die Erfahrung gemacht, dass solche Tätigkeiten für die Entfaltung und
Persönlichkeitsbildung der Kinder wichtig sind."
Was bedeutet es für Tassew Shimeles, Agraringenieur und Koordinator der Internationalen
Gärten Göttingen, bei der Integration von Migranten ganz andere Wege zu
gehen? "Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass Mitgestaltung in einem großen
Industrieland möglich ist. Das hat mir gezeigt, wie wichtig das Individuum
ist."
Stolz auf eigene Fähigkeiten, Lust an kreativer Betätigung, Wunsch nach
persönlicher Entfaltung, Geselligkeit, Teilhabe und Mitgestaltung, aber auch
die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen - das sind Motive dafür, dass
Menschen sich bewegen, dass sie aktiv werden für sich und für andere.
Hier setzt die gemeinnützige Forschungsgesellschaft anstiftung in München
an. In Modellprojekten entwickelt und erprobt sie Grundlagen und Voraussetzungen
für die Verwirklichung nachhaltiger Lebensstile und neuer Wohlstandsmodelle.
Ihre These: Handwerkliche, kulturelle und soziale Eigenarbeit dient der persönlichen
Entwicklung und trägt zum nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen
bei. Eigenarbeit, verstanden als Tätigsein im eigenen Auftrag, mit den eigenen
Kräften, nach eigenem Konzept für den eigenen Bedarf, ist von Anfang an ein
zentrales Forschungs- und Praxisthema der anstiftung, flankiert von den
Themen Selbsthilfe, Wohnen, Nachbarschaft und Gesundheit. Die anstiftung
wurde 1982 von Jens Mittelsten Scheid, einem Mitglied der
Vorwerk-Unternehmerfamilie, gegründet. Sie wird seither aus Mitteln der
Familienstiftung finanziert. "Mit den Aktivitäten der anstiftung",
sagt Jens Mittelsten Scheid, "wollen wir real und nachhaltig zu
gesellschaftlichen Problemlösungen beitragen." Heute konzentriert sich die
Forschungsarbeit auf regionale Eigenversorgung und Eigenarbeit sowie, eingemündet
in die Gründung der Stiftung Interkultur, auf innovative Ansätze für
eine nachhaltige Einwanderungsgesellschaft.
Auf Initiative der anstiftung entstand 1987 das Münchner
Modellprojekt Haus der Eigenarbeit (HEi), ein Bürgerzentrum mit
zahlreichen Werkstätten, in denen Laien ohne Voranmeldung handwerklich und künstlerisch
tätig sein können und dabei von Fachleuten beraten werden (s. Artikel Seite
7). Nach dem Vorbild des HEi sind in anderen Orten Werkstätten für
Eigenarbeit entstanden, so z.B. in Wolfen, Bozen, Tübingen und im Ökodorf
Sieben Linden. Auch für die Werkstätten des Kempodium - Allgäuer Zentrum für
Eigenversorgung, einer weiteren Initiative der anstiftung in Kempten (s.
Artikel Seite 8), stand das HEi Pate. Jedes Projekt hat jedoch seine
eigene Geschichte und sein eigenes Profil. Im Kempodium z.B. wird ein kleines
Team von Beschäftigten von einer großen Gruppe ehrenamtlicher Helfer/innen
gestützt. Regionalität ist wichtiger Bestandteil des Kemptener Konzepts und prägte
von Anfang an das Programm. Die Stiftung Interkultur hat über
Interkulturelle Gärten das Thema Integration mit Eigenarbeit verknüpft (s.
CONTRASTE Oktober 2004). Sie macht auf diesem Weg auf neue Formen
selbstbestimmter Integration aufmerksam.
Die anstiftung spürt gesellschaftliche Trends auf und verbindet ihre
Forschungs- und Entwicklungsarbeit mit relevanten Zeitthemen. Dazu gehören die
Krise der Erwerbsarbeit, die Nachhaltigkeitsdebatte, aber auch die Gefahren der
Kommerzialisierung nahezu aller Lebensbereiche. Kernfragen der anstiftung
sind: Welche Formen des lebenswichtigen und lebensdienlichen Handelns gibt es in
unserer Gesellschaft jenseits von Markt und Staat? Unter welchen Bedingungen
werden Menschen selber aktiv? Was bedeuten ihnen informelle Tätigkeiten, und
welchen Wert haben diese für die Gesellschaft? Wie kann man eine
subsistenzorientierte Alltagskultur als gesellschaftlichen Wert fördern und schützen?
In ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit hat die anstiftung
verschiedene Modellprojekte entwickelt und wissenschaftlich begleitet. In ihrem
neuen soziologischen Forschungsprojekt über "Nachhaltige Lebensstile und
Alltag" untersucht sie seit Anfang 2004 die Verbreitung und Bewertung
eigenproduktiven Handelns in den verschiedensten Milieus. Die anstiftung
hat ausgewertet, wie Projekte der Eigenarbeit zu organisieren, zu bewerben und
zu finanzieren sind; sie hat die Ergebnisse veröffentlicht und das
"Netzwerk Eigenarbeit" ins Leben gerufen, das inzwischen bis nach Südtirol
reicht. Neue Initiativen erhalten Unterstützung durch Beratung, Schulungen und
Praktika; in einigen Fällen gibt es auch eine finanzielle Starthilfe. Im "Newsletter
Netzwerk Eigenarbeit" stellt die anstiftung ihren Netzwerkpartnern
beispielhafte Entwicklungen in einzelnen Projekten vor. Praktisches Know-how
liefern außerdem die "Bausteine zur Projektentwicklung", in denen
Themen wie die optimale Einrichtung von Werkstätten oder die Didaktik der
Arbeit mit Laien ausführlich beschrieben werden. Um den persönlichen
Erfahrungsaustausch zwischen den Partnern lebendig zu halten, finden in unregelmäßigen
Abständen Projektetreffen statt.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 9