WELTSOZIALFORUM IN PORTO ALEGRE
- IMPRESSIONEN UND REFLEXIONEN
"Eine andere Welt ist möglich"
Vom 31. Januar bis zum 5. Februar fand im
brasilianischen Porto Alegre das zweite "Weltsozialforum" statt. Über
50.000 Menschen aus 132 Ländern hatten sich zusammengefunden, dreimal soviel
wie vor einem Jahr. Unter ihnen waren 11.000 Jugendliche, für die es ein
eigenes Jugendlager gab. Von etwa 2.000 vertretenen Organisationen und
Initiativen wird gesprochen.
Der nachfolgende Beitrag schildert das Treffen
aus der persönlichen Sicht des Autors: Impressionen und Reflexionen.
Von Christoph Strawe, Stuttgart - Aus der
Bundesrepublik hatten diesmal etwa 160 Teilnehmer den Weg über den Äquator auf
den amerikanischen Kontinent gefunden, - letztes Jahr war es nur ein knappes
Dutzend. Unter ihnen waren Gruppen wie ATTAC, Misereor und diverse Netzwerke,
aber auch Vertreter des DGB und der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie
Parlamentarier der SPD und der PDS. (1) Im Goethe-Institut
fanden diverse Veranstaltungen statt, darunter eine Pressekonferenz der
deutschen Delegation. - Stark vertreten - auch mit einem eigenen Faltprospekt
und zahlreichen Workshops: die "Stuttgart Delegation" - bestehend aus
ATTAC (Katrin Zöfel), dem Forum 3 (Ulrich und Gabi Morgenthaler), der
Initiative "Netzwerk Dreigliederung" (Christoph Strawe) und ihrem jüngeren
Bruder "GlobeNet3" bzw. "GlobalSTAF" (Johannes Lauterbach
und Carol Bergin) sowie dem Netzwerk weltweiter Projekte NWWP (Suely Nunes-Löwe,
Jens Löwe).
Was hat es mit diesem Forum auf sich? Wie ist es entstanden, welche
Ergebnisse hatte das diesjährige Treffen und welche Impulse können von ihm
ausgehen? - Davon handelt der folgende Bericht, der zugleich versucht, etwas von
der Stimmung des "Events" einzufangen und Impressionen von der
Umgebung zu vermitteln, in welcher er stattfand.
Zivilgesellschaft: eine dritte Kraft wird sichtbar
Das alte Jahrhundert endete mit der "Battle of Seattle". Die
Welthandelsorganisation WTO führte in der nordamerikanischen Stadt ihren Gipfel
durch, bei dem die Staatenvertreter vor allem im Interesse der transnationalen
Wirtschaftsunternehmen die weitere Liberalisierung des Welthandels vorantreiben
wollten. Dagegen protestierten Menschen aus aller Welt, in einer so noch nie da
gewesenen Koalition: Alte Linke, Ökologiegruppen und Organisationen neuen Typs
wie ATTAC, Gewerkschaften aus den Metropolen und Kleinbauernvereinigungen aus
den gering entwickelten Ländern, Menschenrechtsgruppen, Fair-Trade-Initiativen,
religiös-kirchliche Gruppierungen. Ihre Aktionen waren nicht von oben -
zentralistisch - gesteuert, sondern von unten - netzwerkartig - koordiniert.
Eine ähnliche Koalition, teilweise die gleichen Akteure, hatte zuvor bereits
das heimlich in der OECD vorbereitete und 1998 der Öffentlichkeit bekannt
gewordene Investitionsschutzabkommen MAI zu Fall gebracht.
Der Zusammenbruch des Staatssozialismus 1989 und die Zurückdrängung der Kräfte
eines dritten Weges in der Zeit danach hatten über Jahre hin der Lehre von der
alleinseligmachenden neoliberalen Marktökonomie Hochkonjunktur beschert. Nun
war eine neue dritte Kraft auf den Plan getreten, die nichts mit dem
Establishment der Staaten und der Ökonomie zu tun hatte und für die sich als
Identifikationsbegriff das Wort von der "Zivilgesellschaft"
durchsetzte. Und siehe da: Der Gipfel von Seattle scheiterte, weil die Bewegung
Entwicklungsländern Mut machte, wider den Stachel zu löcken. Die Widersprüche
innerhalb der WTO-Mitgliedschaft kamen zum Vorschein. (2)
Würde diese Kraft kontinuierliche Wirksamkeit entfalten können? Würde sie
mehr sein als eine Verhinderungs- und Antikoalition, wie so viele soziale
Bewegungen der Vergangenheit, die sich dadurch schließlich totliefen? Kurz: würde
sie gegenüber dem Bestehenden die Kraft dessen entfalten können, was die
klassische deutsche Philosophie "bestimmte Negation" genannt hat, d.h.
eine Verneinung, die zugleich Bejahung ist, weil sie konstruktiv und nicht bloß
abstrakt wirkt?
Bemerkenswert immerhin war die Auflösung alter Lagerbildungen. Die alte
Linke war technikgläubig wie ihre Hauptgegner. Nun fand man sich auf dem Boden
nachhaltiger Entwicklung, wurde der Sinn für den Organismus Erde ein
verbindendes Band für viele Beteiligte. Damit schloss die Bewegung zugleich an
die Impulse an, die von dem UNO-Umweltgipfel in Rio im Jahre 1992 ausgegangen
waren (Lokale Agenda 21).
Weltwirtschaftsforum und Weltsozialforum
Vor 30 Jahren hatte der mittlerweile 62jährige Genfer Wirtschaftsprofessor
Klaus Schwab, gebürtig aus Ravensburg, heute einer der reichsten Männer der
Schweiz, das sogenannte World Economic Forum gegründet. Es fand seither jährlich
in Davos statt, wo sich eine erlesene Schar von Verantwortungsträgern aus
Politik und Big Business versammelte. Eine Mischung aus Denkfabrik, Kontaktbörse
und Laufsteg der Eitelkeiten war dieses einflussreiche Forum. Wenige mit Rang
und Namen, die niemals in der Bündner Bergwelt dabei waren.
Eine Bewegung, die der neoliberalen Form der Globalisierung kritisch gegenüberstand,
konnte Davos nicht gleichgültig sein, sie musste eine Antwort darauf finden.
Gegendemonstrationen fanden vermehrt in den letzten Jahren statt. Aber genügt
es zu protestieren? Liegt nicht die Stärke von Davos darin, dass dieses Forum
Entwicklungen abspürt und vordenkt, dass es Dialoge ermöglicht, die zu - wie
immer fragwürdigen - Gestaltungsimpulsen beitragen? Muss, wer anderes will, als
dort vorgedacht wird, nicht jene Stärke ebenfalls entwickeln, - nur eben auf
andere Weise? - Solche Überlegungen, in vielen Köpfen auftauchend, mögen es
gewesen sein, die dazu führten, dass die Idee eines parallel zu Davos
stattfindenden Forums realisiert wurde. Bei ihm sollte es um Antworten auf die
Frage gehen, "wie in einer zukünftigen Welt die Ökonomie in den Dienst
der Menschen gestellt werden sollte und nicht umgekehrt". (3)
In Brasilien fand sich eine Reihe von Organisationen, die die Sache
vorantrieben. Sie verhandelten mit den Autoritäten von Rio Grande do Sul, wo
die Bedingungen für die Durchführung günstig schienen. Und sie verbanden sich
mit Gruppen in aller Welt - ATTAC Frankreich hatte die Initiative bereits von
Anfang an kräftig mit vorangetrieben. So kam im Jahr 2 nach Seattle das I.
Weltsozialforum in Porto Alegre zusammen.
2002: Porto Alegre und New York
Zwischen dem 1. und dem 2. Forum lagen die Demonstrationen und die brutalen
Einsätze der Staatsgewalt beim G8-Gipfel in Genua und die entsetzlichen Anschläge
des 11. September mit all ihren Folgen. Hatte Genua zu einem Aufschwung der
Bewegung geführt und Organisationen wie ATTAC einen großen Mitgliederzustrom
beschert, so sagten ihr nach dem 11. September manche ein nahes Ende voraus. Das
Gegenteil jedoch trat ein: "Porto Alegre II hat deutlich gemacht, dass die
Dynamik der globalisierungskritischen Bewegung ungebrochen ist. Sie wächst
weiter und gewinnt an Breite und Einfluss", so Peter Wahl, Mitglied des
Koordinierungsausschusses von ATTAC Deutschland.
Teils aus Solidarität mit den USA, teils weil die Schweizer Behörden
offensichtlich den immensen Sicherheitsaufwand nicht leisten wollten, verlegte
man das WEF in diesem Jahr nach New York. Durch die zeitgleich auf einem
Kontinent stattfindenden Veranstaltungen entstand ein sprechendes Bild, Realität
und Symbol zugleich: dort im kalten Norden die auserwählte Schar der 2.700
Reichen und Mächtigen, von einem Riesenaufgebot von Sicherheitskräften und
Sperren geschützt, was zugleich an den Orten des Geschehens das Geschäftsleben
New Yorks zurückdrängte. Hier in der 28ø-Wärme Brasiliens eine gelöste, bei
allem Ernst der inhaltlichen Arbeit geradezu volksfestartige Stimmung, die
gleich bei der Eröffnungsveranstaltung aufkam. Und Leben allüberall - auch die
örtliche Geschäftswelt und der Kleinhandel profitierten. Die wenigen Polizeikräfte
hielten sich dezent im Hintergrund, und die Ordner mussten nicht mehr
kontrollieren als die Delegierten- bzw. Teilnehmerausweise.
War das erste Forum von den Medien noch weitgehend heruntergespielt worden,
so war das im Jahr 2002 deutlich anders. Dazu trug der Kontrast der Bilder
sicher bei: häufig wurde zugleich über New York und Porto Alegre berichtet.
Lasst 1.000 Blumen blühen ... Wie Alternativen für eine andere Welt
entstehen können
Die Form der Veranstaltung war bereits in der Vorbereitung des ersten Forums
geprägt worden: Morgens wenige teach-in-artige Foren vor einem großen Publikum
mit mehreren Podiumsteilnehmern, bei denen es sich meist um Menschen handelte,
die prominent sind, weil sie sich in der Bewegung hervorgetan haben. - In diesem
Jahr waren es insgesamt 27 solcher "Conferences". Sie behandelten
unter anderem Themen wie fairen Handel, internationale Organisationen, Kontrolle
der Finanzmärkte, nachhaltige Entwicklung, Wasserversorgung, transnationale
Unternehmen und die Rolle der Zivilgesellschaft.
Am Nachmittag dann "Workshops". In diesem Jahr waren es an die 300
jeden Tag, sie konnten von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst gestaltet
werden. Insgesamt eine Fülle von Gesprächs- und Begegnungsmöglichkeiten, die
einer realen Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Akteure untereinander dienen
sollten. Zwar war die Form der Vormittagsveranstaltungen recht konventionell:
Statements reihten sich aneinander, anschließend waren noch Fragen möglich.
Die Offenheit des Workshop-Programms jedoch war beispielhaft: Man konnte sich - über
die Internetseiten des WSF - mit seiner eigenen Workshop-Initiative völlig frei
einbringen und diese bekannt machen - und die Organisatoren brachten das Kunststück
fertig, für all diese verschiedenen Arbeitsgruppen das räumliche Umfeld zu
schaffen. - Gerade wer wie der Autor einen zentralistisch organisierten Event
wie die 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in der damaligen Hauptstadt
der DDR erlebt hat, kann die praktizierte aktive Toleranz der Veranstalter würdigen.
Natürlich wehten in Porto Alegre auch die roten Fahnen der in Lateinamerika
traditionell starken marxistisch-leninistischen Gruppen, formierten sich auf dem
Veranstaltungsgelände immer wieder Demonstrationszüge, die ohrenbetäubend
ihre Losungen skandierten. Sie gehörten zum bunten Bild der Veranstaltung dazu,
waren aber auch wiederum zu sehr eine Randerscheinung, als dass sich jemand zum
Mitmarschieren in einer "antiimperialistischen Einheitsfront" hätte
genötigt sehen müssen. Dass ultralinke Gruppierungen parallel zur Eröffnung
eine eigene Demonstration gegen das "reformistische Weltsozialforum"
durchführen konnten, ohne dass sich jemand darüber aufregte, passt zum
Gesamteindruck.
Die selbstlose Haltung der Organisatoren, ein Forum bieten zu wollen, durch
das sich eine Kraft der Alternative aus der Zivilgesellschaft heraus formen
kann, nicht aber eine solche Bündelung der Kräfte auf einer vorgegebenen
Plattform erzwingen zu wollen, war der entscheidende Ansatz schon des ersten
Forums. Es war ein qualitativer Sprung gegenüber den allermeisten Ansätzen in
der Vergangenheit, internationale Solidarität zu bewirken. (Vgl. Anhang 1 mit
der "Charta der Prinzipien" des WSF)
Peter Wahl bringt diese Qualität auf den Begriff: "Diese Bewegung
organisiert sich transnational und unter Bedingungen, die die politische und
kulturelle Diversität auf dem Planeten widerspiegeln. Eine gemeinsame
theoretische oder weltanschauliche Grundlage gibt es, anders als bei früheren
Versuchen, eine "Internationale" zu bilden, nicht. Erst recht besteht
keine Zentrale, die irgendetwas vorgeben könnte. Einzig die Fähigkeit aller
Akteure zur Selbstorganisation bestimmt den Grad der Struktur- und Regelbildung.
Toleranz und kommunikative Kompetenz über kulturelle Grenzen hinweg sind dabei
von entscheidender Bedeutung. Historische Vorbilder für einen solchen
demokratischen Konstitutionsprozess einer transnationalen sozialen Bewegung
existieren nicht."
Eine Region wagt mehr Demokratie...
Porto Alegre mit seinen ca. 1,4 Mio. Einwohnern ist die Hauptstadt des
brasilianischen Teilstaats Rio Grande do Sul (Bevölkerung 10 Mio.). Dieser Teil
Brasilien ist als Gastgeberregion für ein derartiges Forum wie geschaffen. Wird
hier doch eine weitgehende Form direkter Demokratie praktiziert, bei der die Bürger
z.B. über die Ausgabeprioritäten der öffentlichen Hände abstimmen können (Bürgerbudget).
Bei der UNO interessiert man sich für dieses Modell, in einer Reihe
lateinamerikanischer Städte findet es Nachahmer.
Hinter diesem Ansatz steht die brasilianische Arbeiterpartei (PT), die in
Stadtverwaltung und Landesregierung dominiert und ohne deren Unterstützung das
Forum in dieser Form sicherlich nicht hätte stattfinden können. Von 2,3 Mio.
Reals (1 Real = ca. 0,5 Euro) vom Gouverneur des Teilstaats und weiteren 800.000
Reals vom Präfekten der Stadt ist die Rede (4), -
was unmittelbar einleuchtet, wenn man das Preis-Leistungs-Verhältnis des mittäglichen
Büffets bestaunt hat. Der PT-Ehrenvorsitzende Lula da Silva erhielt im Forum
"partizipatorische Demokratie" am vierten Tag standing ovations für
eine flammende Rede, die wohl zugleich Wahlkampf für seine Präsidentschaftskandidatur
war.
Einen weiteren Faktor des Gelingens stellt sicher die Tatsache dar, dass der
riesige Campus der katholischen Universität und deren in der Stadt verstreute Hörsaalgebäude
für die Veranstaltung voll zur Verfügung standen. Im Foyer des Hauptgebäudes
strömten morgens Tausende zu den großen Foren, die nachmittäglichen Workshops
verteilten sich dann auf die Vielzahl der Gebäude. Das Transportproblem lösten
Shuttle-Busse und die hellrote Taxiflotte der Stadt, deren Fahrer ein gutes
Geschäft machten.
Eine Parkhausetage der Universität war zu einem einzigen Markt
umfunktioniert, in dem sich ein Bücher- und Informationsstand an den nächsten
drängte. Auch im Freien, überall auf dem Gelände, Stände verschiedener
Organisationen und der zahlreichen Kleinhändler, die vom Schmuck über
Plaketten bis zum T-Shirt alles feil hielten, was das Herz der Teilnehmer
begehrt. - Bei einem Schmuckhändler muss ich ein drittes Paar Ohrringe für
meine Frau als Dreingabe nehmen, weil ich aus dem Land von Karl Marx komme. -
Allerdings hatte ich auch bereits den Spottpreis von 3 Real pro Paar nach oben
korrigiert.
Auch wenn man die Unterstützung und die gute Infrastruktur einbezieht: die
reibungslose Organisation einer solchen Veranstaltung ist eine logistische
Meisterleistung der unmittelbar für die Durchführung Verantwortlichen.
Brasilianische Impressionen
Von Porto Alegre ist es nicht weit zur Grenze, hinter der ein im Augenblick
durch die Folgen der neoliberalen Globalisierung besonders betroffenes Land,
Argentinien, von sozialen Unruhen geschüttelt wird. Die Lage in Brasilien ist
anders. Seit man 1994 eine an den Dollar angekoppelte Währung, den Real, eingeführt
hat, hat man die Inflation im Griff und hofft, mit dieser Lösung besser
zurechtzukommen als der Nachbar im Süden. Die sozialen Probleme indes sind mit
Händen greifbar, wenn man die Innenstadt von PA erkundet. Mit ihrem
vibrierenden Leben macht sie einen aufstrebenden Eindruck, überall Geschäftigkeit.
Zugleich ist das Elend unübersehbar, trotz vieler Bemühungen der Verwaltung:
Straßenkinder, die betteln; eine Frau, die mit ihrem Säugling auf dem Arm vor
einem Geschäft sitzt und offensichtlich keine Bleibe hat; Männer, die am Straßenrand
schlafen, und die anderen, die geschäftig vorbeieilen.
Etwas besser daran sind diejenigen, die wenigstens irgend etwas zu verkaufen
haben. Der Straßenhandel ist allgegenwärtig, und daran, wie die Ware präsentiert
wird, ist die soziale Hierarchie zu studieren: Auf dem Gehsteig, im Bauchladen,
auf einem Tischchen, in einem eigenen Stand... In einem Geschäft sehe ich eine
Auslage mit Hemden, die man in 5 Monatsraten zu 5,99 Reals abstottern kann:
Konsumentenkredit für die Armen. Auffällig viel private Sicherheitsleute, z.B.
vor den großen Geschäften. Ein Fremder tritt auf mich zu und warnt mich:
"Take care of your camera" (einem Mitglied der Stuttgart Delegation
sind tatsächlich am ersten Tag Pass und Kreditkarte entwendet worden).
Dass die Arbeit billig ist, merkt man an Details: ich kaufe eine große
Flasche Soda im Supermarkt - und gleich ist ein dienstbarer Geist zur Stelle, um
sie mir in die Tüte zu packen. Deutlicher Unterschied im Preisniveau zwischen
den großen Marken und der heimischen Produktion. Für unsere Verhältnisse ist
vieles günstig. Den "Super-Dog" (Super ist gar kein Ausdruck, er kann
als komplettes Mittagessen durchgehen!) bekommt man an der Bushaltestelle bei
einem Straßenhändler für 1,50 Real.
Die Umweltprobleme des Landes ahnt man, wenn man der Gewässerverschmutzung
ansichtig wird: Der Strand hinter dem Amphitheater, in dem die Eröffnungsfeier
stattfand: aus der Ferne wunderschön - aus der Nähe betrachtet, verliert man
die Lust zum Baden.
Das International Forum on Globalization (IFG)
Eine wichtige Plattform unter den vielen anwesenden Organisationen stellt das
"International Forum on Globalization" dar. Sind doch in seinem
"Board" viele der herausragenden Gestalten der Bewegung für eine
andere Form der Globalisierung anwesend. Eine davon ist Lori Wallach, eine
amerikanische Wirtschaftsanwältin, die bereits in der Bewegung gegen das MAI
eine Schlüsselrolle spielte und zu deren Markenzeichen es geworden ist, dass
sie stets zwei riesige Wälzer mit den WTO-Vereinbarungen mit sich führt, um
sie ihrem Publikum zur Abschreckung zu präsentieren.
Wer den im ZDF ausgestrahlten Film "David gegen Goliath" gesehen
hat (5), kennt sie, ebenso wie Vandana Shiva, die
Inderin. Diese Frau hat ein enormes Charisma. Man versteht, dass sie in Indien
Hunderttausende in Bewegung bringt. Seit sie vor der amerikanischen Justiz die mächtige
Firma Rice-Tec in die Knie zwang, ist sie geradezu eine Legende geworden.
Rice-Tec hatte das Patent für eine neue Reissorte erhalten, die ähnliche
Eigenschaften wie der originale indische Basmatireis aufweist. Durch diesen
schmutzigen Trick wäre es der Firma fast gelungen, sich die indischen Bauern
tributpflichtig zu machen, hätte Shiva nicht dagegen angekämpft. Die
kostenlose Nutzung des eigenen Saatguts wäre am Ende ein Verstoß gegen das
TRIPS-Abkommen der WTO gewesen.
Ich höre Vandana Shiva bei der Konferenz über Nachhaltigkeit - und muss
unwillkürlich an Martin Luther King denken. Sie beginnt mit einem Zitat aus dem
"Economist", das den Ernst der Lage beleuchtet. Ein Schreiberling hat
dort gefordert, "Greenpeace" und "Friends of the Earth"
wegen ihres aktiven Widerstands gegen biotechnische Entwicklungen unter
Antiterrorismus-Gesetze zu stellen. Die promovierte Physikerin findet einprägsame
Bilder - geeignet, auch einfache Menschen anzusprechen, ohne dabei populistisch
zu werden. Ihr Satz, dass G. Bush das Wasser in seinem Swimmingpool wichtiger
sei als die Wasserversorgung von Millionen Menschen auf der Welt, wird in den
Medien zitiert. Sie bringt die Dinge auf den wesentlichen Punkt, wenn sie sagt,
die Menschenrechte seien den Menschen nicht von den Regierungen verliehen,
sondern mit ihnen geboren und darum unveräußerlich. - Ihr Auftritt war für
mich vielleicht der nachhaltigste Eindruck des Forums (Noam Chomskis Vortrag
verpasste ich, weil kein Zugang zum überfüllten Saal mehr möglich war, der
Vortrag Leonardo Boffs, des Begründers der Theologie der Befreiung, fiel aus.)
Zum Board des IFG gehört auch Maude Barlow, Vorsitzende des Council of
Canadians, die in Kanada eine breite Bewegung gegen das WTO-Abkommen über den
Handel mit Dienstleistungen GATS in Gang gebracht hat. Den Rundbrieflesern ist
sie durch den Teilnachdruck ihres Artikels "Die letzte Grenze" und
meinen Beitrag über GATS bekannt. (6) Dann sind da
Persönlichkeiten wie Walden Bello, ein philippinischer Sozialwissenschaftler,
Direktor des "Focus on the Global South" oder Martin Khor vom "Third-World-Network"
aus Malaysia. Er imponiert mir durch seine strategische Intelligenz, seine
Souveränität im Umgang mit dem Stoff, den er behandelt, aber auch durch den
Eindruck eines unbeugsamen Willens, der von ihm ausstrahlt. Man muss
konzeptionell nicht mit allem konform gehen, was er sagt. Aber im entscheidenden
Punkt hat er allemal Recht gegen die Beschwichtiger und Beschöniger aus allen Ländern
und Lagern: nämlich, dass der WTO-Prozess gestoppt werden muss, dass die WTO in
ihrer jetzigen Form nicht reformierbar ist. Seine Argumente - vorgetragen u.a.
bei einem der größeren Workshops über die Gestaltung der Globalisierung -
sind glasklar:
Das WTO-Regime greift durch in alle Länder, aufgrund der Möglichkeit, jede
regionale demokratische Entscheidung durch die Klage bei der WTO auszuhebeln, -
wenn es nur gelingt, einen Verstoß gegen die sakrosankten Regeln des freien
Wettbewerbs glaubhaft zu machen. Dieses Regiment verunmöglicht jede soziale
Gestaltung in der Region, dem Lebensort der Menschen. Seine Beseitigung, ist es
erst einmal durchgesetzt, ist vielhundertmal schwerer als die Änderung einer
nationalen Verfassung, - welche, wenn sie grundlegenden Charakter hat,
bekanntlich auch nur in historischen Ausnahmesituationen möglich ist.
Einsichtig auch Khors Aussagen über die notwendige Begrenzung des freien
Kapitalverkehrs durch soziale Gesichtspunkte, eindrucksvoll an der Asienkrise
exemplifiziert. Jens Löwe fragt ihn um die Erlaubnis, einiges, was er
geschrieben hat, ins Deutsche zu übersetzen, und erhält gleich eine
Generalvollmacht. Das ist eine freundschaflichte Geste, zugleich aber auch wohl
Ausdruck einer Einschätzung der strategischen Bedeutung, den eine Stärkung der
Bewegung in Deutschland haben könnte.
Ein weiteres Mitglied des Boards, das hier erwähnt werden muss, ist David
Korten. Korten, der auch in einem unserer Workshops mitwirkte, hat u.a. die
Werke "When Corporations Rule The World" (1995, 2. Aufl. 2001) und
"The Post-Corporate World: Life After Capitalism" (2000) verfasst und
gilt nicht nur als glänzender Analytiker, sondern auch als Vordenker, was künftige
gesellschaftliche Gestaltungen angeht. In seinem erstgenannten Werk zitiert er
unseren philippinischen Freundes Nicanor Perlas, der wiederum zu den "Associates"
des Forums gehört. In Kortens Denken spielen Prinzipien wie ökologische
Nachhaltigkeit, ökonomische Gerechtigkeit, kulturelle Vielfalt, Subsidiarität,
Partizipation und Verantwortlichkeit eine große Rolle.
Seine Mitautorschaft ist auch in dem Dokument erkennbar, welches das IFG bei
einem Workshop erstmals in Kurzfassung als Entwurf der Öffentlichkeit vorstellt
und an dem intern lange gearbeitet worden ist: "A Better World is possible
- Alternatives To Economic Globalization" (siehe Anhang 2). (7)
Die Globalisierung gestalten - Alternativen für eine andere Welt
Damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt angelangt: Porto Alegre wollte
von Beginn an mehr sein, als eine Protestveranstaltung. Es wollte den Beweis
antreten für die Aussage des Mottos "Eine andere Welt ist möglich".
Wie können deren Konturen aussehen? Wie kann verhindert werden, dass wiederum
nur eine Utopie entsteht, die sich bestenfalls, sollte sie sich durchsetzen, als
Konglomerat fixer Vorstellungen erweist, die die Menschen als übergestülpt
erleben und die sich darum in der Realisierung dann auch bald ins Gegenteil
verkehren? Wie soll, auf der anderen Seite, vermieden werden, dass nicht mehr
zustande kommt als ein Potpourri unzusammenhängender Wünschbarkeiten aus den
verschiedensten Ecken?
Die Organisatoren haben von vornherein gut daran getan, zu verhindern, die
Zeit "mit Diskussionen über Einzelheiten zu verlieren, die in einem
abschließenden Dokument enthalten sein sollten" (8).
Alternativen, die wirkliche Kraft der Veränderung in sich bergen, sind heute
allemal solche, die Strukturen beschreiben, unter denen Menschen handlungsfähig
zur Lösung ihrer jeweiligen Probleme werden können, nicht "Lösungen"
im Sinne einer inhaltlich vorgedachten "richtigen"
Gesellschaftsordnung. In diesem Punkt hat ein Grundansatz der Dreigliederung -
auch wenn dieses als Konzept bei dem Forum sicherlich nur eine Randrolle in
einzelnen Diskussionen spielte - im allgemeinen zivilgesellschaftlichen
Bewusstsein begonnen Fuß zu fassen. Aber die Formulierung solcher Alternativen
kann auch wiederum nur aus einem permanenten Diskurs hervorgehen. Daher sind
Foren wie das IFG als Orte freien geistigen Austauschs so wichtig.
Damit soll über die Aussagen des Dokuments im einzelnen nichts gesagt sein.
Vieles findet sich dort, an dem unmittelbar angeschlossen werden kann, manches
bedarf aber sicher auch weiterer Diskussion. So möchte man z.B. fragen, ob die
Betonung der "lokalen Wirtschaft" - so wichtig diese Entdeckung der
Region als realer Ort von Wirtschafts- und Lebenszusammenhängen auch ist - als
Alternative zur neoliberalen Globalisierung ausreicht, oder ob nicht gerade auch
global solche Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit entstehen können und müssen,
welche die gleiche Transparenz und Gestaltbarkeit aufweisen, wie sie im Lokalen
zu Recht gesucht werden. Mit dieser Frage wäre eine Debatte über eine moderne
kooperative Wirtschaft eröffnet, die sehr weit führen könnte.
Das IFG hat ausdrücklich um Diskussionsbeiträge zu seinem Papier gebeten -
und man sollte dieses Angebot dankbar annehmen. So soll das geplante Seminar der
Fortbildungsreihe "Individualität und soziale Verantwortung" vom
11.-13. Oktober an der Universität Trier, bei dem es um konzeptuelle Bausteine
für eine menschengerechte Globalisierung geht, ausdrücklich unter den
leitenden Gesichtspunkt gestellt werden, zu dieser Debatte einen Beitrag zu
leisten. - Übrigens: Carol Bergin und Johannes Lauterbach hatten bereits am
Rande der WTO-Konferenz in Doha mit Lori Wallach, Vandana Shiva und Maude Barlow
engere Kontakte knüpfen können, die in Porto Alegre weiter gepflegt werden
konnten und vielleicht zukünftig fruchtbare Zusammenarbeitsmöglichkeiten eröffnen.
Die konzeptionellen Beiträge, die bei dem Forum oder im Zusammenhang mit ihm
geleistet wurden, sind insgesamt beachtlich. Aufmerksamkeit verdient dabei auch
ein von ATTAC Frankreich Ende Januar vorgelegtes "Manifest 2002". (9)
Nur wer illusionäre Ansprüche stellte, konnte über einen mangelnden
konzeptionellen Ertrag in Porto Alegre klagen. "Erwartungshaltungen, die in
der abschließenden Pressekonferenz gerne einen Konstruktionsplan für die neue
Gesellschaft sehen wollten", so Peter Wahl, "wurden enttäuscht. Das
finale Manifest einer lichten Zukunft, der große Wurf wurde nicht präsentiert.
Im Gegenteil, ganz bewusst wurde auf eine offizielle Abschlusserklärung
verzichtet, weil die Entwicklung eines 'planetarischen Programms' - wenn es denn
auf demokratische Weise zustande kommen soll - gerade nicht von einem Großdenker
oder eine Avantgarde mal so auf den Markt geworfen werden kann. Was einer
kurzschlüssigen Effizienz- und platten Ergebnisorientiertheit als Schwäche
erscheint, ist im Gegenteil bereits der Vorschein einer anderen Welt:
partizipative Demokratie, herrschaftsfreier Diskurs, Entschleunigung. Hier wird
nichts durchgepowert."
Zusammenarbeit, z.B. in Europa ...
Auch für die Entwicklung der Zusammenarbeitsformen und
Organisationsstrukturen innerhalb der Bewegung war das Forum fruchtbar. Die
Beratung von ATTAC Europa, an der ich teilnehmen konnte, beispielsweise brachte
eine bessere Wahrnehmung der verschiedenen Sektionen untereinander - einige von
ihnen sind erst in jüngster Zeit überhaupt entstanden -, aber auch Impulse für
Kampagnen und ansatzweise auch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, die
Handlungsebene "Europäische Union" in die Arbeit stärker
einzubeziehen. Konkrete Verabredungen gab es für Kampagnen zur Durchsetzung der
Tobin Tax (seit eh und je ein Hauptthema von ATTAC) und zum GATS-Abkommen der
WTO.
Ich selbst habe noch an einer kleineren Arbeitsrunde teilgenommen, die sich
anschließend mit dem EU-Gipfel in Barcelona und entsprechenden Aktionen beschäftigte.
Ich habe dort auch über die Initiativen zur Grundrechtscharta und den Aufruf EU
21 berichtet und der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass es der Zivilgesellschaft
wenigstens gelingen möge, sich auf einige essentielle Forderungen zur
Nachbesserung der Charta und zu den im EU-Reformkonvent zu behandelnden
Strukturfragen der Union und ihrer Institutionen zu einigen, um Einfluss auf die
europäische Verfassungsentwicklung zu nehmen. Das wurde mit Interesse
aufgenommen. Zugleich wurde mir deutlich, dass es noch ein weiter Weg ist, auch
nur die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Ströme - z.B. die verschiedenen
Demokratieinitiativen und die Gruppen der Globalisierungsbewegung - füreinander
wahrnehmbar werden zu lassen und schließlich zu einer konkret wirksam werdenden
Zusammenarbeit zu bringen. Umso wichtiger, diese Aufgabe anzugehen.
Tortenwurf auf eine französische
Regierungsvertreterin
Programmbeiträge unserer Delegation
Die "Stuttgart Delegation" nahm aktiven Anteil am
Workshop-Geschehen: den größten Zulauf hatte dabei Carol Bergins Arbeitsgruppe
über kulturelle Kreativität. Jens Löwes Workshop handelte über das
"Netzwerk Weltweiter Projekte" (NWWP). Suely Nunes-Löwe arbeitete mit
einer Gruppe an der Frage individueller Verantwortlichkeit, außerdem gab sie
zwei Workshops im "Forum Bambino" - auch für die Kinder war ein
Angebot da! Den ganz Kleinen vermittelte sie mit selbstgemalten Bildern
Umweltthemen. Johannes Lauterbachs Gegenstand war "authentische
trisektorale Partnerschaft", wobei er von David Korten unterstützt wurde.
Am Beispiel des Forum 3 behandelten Ulrich und Gabi Morgenthaler das Thema:
"Die Zivilgesellschaft braucht offene Zentren", ich selbst sprach - in
meinem ersten Seminar, das ich in englischer Sprache zu halten hatte! - über
die Zukunftssicherung der Sozialsysteme unter Globalisierungsbedingungen. Ein
gemeinsamer Workshop "Shaping Globalization through Cultural Power" krönte
das Ganze. - Erwähnt sei auch die Teilnahme von Ralph und Julian, zweier Grazer
Waldorfschüler, die mit uns gereist waren.
Die Workshops fanden bei den Teilnehmern ein positives Echo, insbesondere
wurde der Arbeitsstil geschätzt, der wohl dialogischer war als in vielen
anderen Gruppen. In manchen unserer Workshops fand zwischendurch auch eine Gesprächsarbeit
in Kleingruppen statt.
Zu diesem Angebot kam ein brasilianischer Beitrag: Antonio Marques, Leiter
einer anthroposophischen Privatklinik und Autor eines Buches über soziale
Dreigliederung mit dem Titel "Os tres Poderes" - "Die drei Kräfte"
- hielt eine Arbeitsgruppe über kooperative Wirtschaft, in der auch
beispielhafte Projekte aus Europa dargestellt wurden. Gregor Kux hatte einen Bücherstand
mit portugiesischen Übersetzungen von Rudolf Steiner und anderer Literatur aus
dem Bereich der Anthroposophie und Waldorfpädagogik organisiert.
Auch wir hatten - bis zur Grenze des zulässigen Gesamtgewichts unseres
Fluggepäcks - Arbeitspapers und anderes Material in englischer Sprache
mitgebracht, das wir auslegen bzw. an Interessierte verteilen konnten. So haben
recht viele Teilnehmer unsere Arbeit, z.B. auch die Initiative EU 21, ein Stück
weit kennen lernen können.
Der Höhepunkt war sicherlich die Direktübertragung von Porto Alegre zu
einer Versammlung ins Stuttgarter DGB-Haus, in zwei Partien, deren zweite auch
im SDR 3 ausgestrahlt wurde. Wie Stuttgarter Teilnehmer später berichteten,
gelang es, etwas von der Atmosphäre des WSF und der dort herrschenden
Aufbruchstimmung zu übermitteln. Maude Barlow wandte sich an die Stuttgarter
und kündigte an: "I'll come to Stuttgart and we'll change the world".
Leider war ich selbst nicht Zeuge dieser Direktschaltung, da ich zur gleichen
Zeit der schon erwähnten Beratung von ATTAC Europa im Hotel Embajador
beiwohnte. Dieses Faktum zeigt zugleich das arbeitsteilige Vorgehen unserer
Gruppe, das jedoch nicht "organisiert" war, sondern sich spontan durch
die Initiative der Einzelnen ergab.
Dialog mit den "Etablierten"?
Kann es, muss es, einen Dialog zwischen Zivilgesellschaft bzw.
Weltsozialforum und dem Establishment, repräsentiert z.B. im World Economic
Forum, geben? Die Frage liegt auf der Hand, von einigen Teilnehmern, die nach
beiden Seiten hin Verbindungen haben, wurde sie bewusst gestellt, so z.B. von
einer Freundin aus Argentinien in einem unserer Workshops. Oder von Peter Hesse,
der mit seiner Stiftung beispielhafte Entwicklungsprojekte in Haiti betreibt,
Unternehmer und langjähriges Mitglied im "Bundesfachausschuss
Entwicklungspolitik der CDU", mit dem wir einige fruchtbare Gespräche führen
konnten.
Wenn eine Wende in der Entwicklung eingeleitet werden soll, dann setzt das
sicherlich eine Zusammenarbeit zwischen Menschen, die Verantwortungsträger in
den bestehenden mächtigen Institutionen sind und die Notwendigkeit der Wende
begreifen, mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren voraus.
Manche Vertreter des Establishments betrachten zwar die Zivilgesellschaft
noch nicht als relevante Kraft, andere mögen den Dialog nur benutzen, um sie
ruhig zu stellen. Sich Dialogen zu verweigern, wäre jedoch destruktiv: das
soziale Leben baut auf dem Dialog auf. Und wer die eigene Kraft erprobt hat,
braucht keine Angst zu haben, dass er vereinnahmt wird. Diese eigene Kraft ist
nicht die Kraft der Zahl allein, auch wenn es eine kritische Masse braucht,
damit wirksam eingegriffen werden kann. Sie ist die Kraft des Gedankens, der
sozialen konzeptionellen Phantasie. Und es ist die Kraft der gelebten Beispiele,
die ins Spiel gebracht werden muss, - Beispiele, in denen die andere Welt, die
gewollt wird, ein Stück weit bereits antizipiert wird.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in New York waren in diesem Jahr immerhin nicht
nur Jubelarien über die Segnungen des ungebremsten globalen Kapitalismus zu hören.
"Führung in unsicheren Zeiten", lautete das Motto. In den
Veranstaltungstiteln wimmelt es von Wörtern wie "Konflikt" oder gar
"Furcht". Es wurden auch "Schattenseiten der Globalisierung
thematisiert, die Dominanz der USA in der Weltwirtschaft zum Nachteil anderer
und die Frage, ob die USA nicht eine Mitverantwortung für das Entstehen
terroristischer Netzwerke haben". (10) Die Äußerungen
des US-amerikanischen Finanz- und Außenministers als Vertreter der Linie des
"Weiter so", fanden keinen ungeteilten Beifall. "Selbst
IWF-Direktor Horst Köhler kritisierte den Egoismus der Industrieländer, die
ihre Landwirtschaft und die Textilwirtschaft vor ausländischer Konkurrenz und
damit vor Konkurrenz aus Entwicklungsländern schützen." (11)
Man wird das zur Kenntnis nehmen müssen, wenn auch nicht überbewerten dürfen.
Insbesondere wird man sich dadurch nicht in der Entschlossenheit beirren lassen
dürfen, die derzeitig im Rahmen der WTO betriebene Entwicklung anzuhalten, um
die Option anderer Entwicklungswege überhaupt wieder zu eröffnen. Zugleich
wird man sich in dem Bemühen ermutigt sehen dürfen, solche Wege zu bahnen.
Wie geht es weiter?
Für mich ergeben sich zwei Handlungsrichtungen, die miteinander verbunden
sind:
1. Die Welt ist keine Ware! - die WTO-Maschine anhalten!
Wir brauchen eine Bewegung, die die Maschinerie der WTO stoppt. Dabei geht es
nicht um diese oder jene Einzelheit, die gefordert werden müsste. (12)
Es geht darum, dass nicht vollendete Tatsachen geschaffen werden dürfen, die
eine Gestaltbarkeit der Verhältnisse nach menschlichem Maß und durch
menschlichen Ratschluss und Übereinkommen nicht mehr zulassen. Denn die
Realisierung der Werte kultureller Freiheit, demokratischer Gleichheit und
wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Solidarität wäre dann in ihrem Kern
bedroht, ja verunmöglicht.
Viele Entwicklungsländer haben dem Doha-Kompromiss und damit dem Eintritt in
eine neue dreijährige große Liberalisierungsrunde des Welthandels nur
zugestimmt, weil ihnen zugesichert wurde, dass auf der nächsten
Ministerkonferenz 2003 zunächst Einigkeit über den Modus der Verhandlungen
gefunden werden muss, ehe diese Runde tatsächlich eröffnet wird.
Und hier ist zu fordern: keine neue Runde, wenn nicht erst den WTO-Abkommen
und der WTO als Institution die Giftzähne gezogen worden sind. Und das würde
heißen: TRIPS kann in der vorliegenden Form nicht bleiben, wenigstens Bildungs-
und Gesundheitswesen sind aus den GATS-Verhandlungen auszuklammern und eine
eindeutige Priorität der individuellen, demokratischen und sozialen
Menschenrechte vor allen Wettbewerbsrechten ist festzuschreiben.
Faktisch liefe das auf die Forderung nach einem Stop des WTO-Prozesses in
seinem gegenwärtigen Duktus und auf ein Moratorium hinaus, das erlaubt, über
die Grundlagen der Gestaltung der Globalisierung neu nachzudenken.
Die Koalition, die dies durchsetzen kann, kann nur die breitest mögliche
sein: Sie muss Entwicklungsländer ebenso einschließen, wie z.B. die
Gewerkschaftsbewegung in den Metropolen und alle Kräfte der Zivilgesellschaft überall
in der Welt. Es gibt hier keine Vorbedingungen, außer der einen: der
Gewaltfreiheit und der gegenseitigen Toleranz. Und es muss in Kauf genommen
werden, dass die Zukunftskonzeptionen vieler beteiligter Kräfte noch gänzlich
divergieren können. Ja diese Konstellation muss als Chance betrachtet werden,
in der Zusammenarbeit jenes Vertrauen aufzubauen, ohne das eine Verständigung
im "Pro", über das "Anti" hinaus, nicht möglich sein wird.
2. Entwicklung der Konturen einer anderen Welt
Die Konturen einer anderen Welt müssen von immer mehr Menschen als Bild in
sich belebt werden. Zugleich ist der Dialog zwischen allen, die um solche Bilder
ringen, selbst ein Element des Entstehungsprozesses einer neuen Welt. Es ist ein
sozialkünstlerischer Vorgang, ohne den die Erneuerung keine wäre. Das Wahre
ist das Ganze, Resultat und Weg, der zu ihm führt, hat Hegel gesagt. Ein
soziales Ziel, zu dem der Weg nicht ebenfalls ein sozialer ist, also ein
zwischenmenschliches und mitmenschliches Zusammenwirken, wäre keines. Zugleich
bedarf die Kunst des Handwerks, der Technik, als ihres Instruments. Im Hinblick
auf das soziale Leben heißt das unter anderem auch: gründliche sachliche
Untersuchung der jeweiligen Materie. Wie müsste ein Geldwesen, eine
Eigentumsordnung, der Umgang mit den Ressourcen, mit der Bodennutzung, der
Preisgestaltung, der Einkommensbildung, der Ausgestaltung der Demokratie, der
Verfassung des Schulwesens, des Universitätslebens usw. aussehen, wenn ein
Zustand erreicht werden soll, der menschlicher wäre als der bestehende? Um
solche Fragen beantworten zu können, sind nicht nur große Visionen nötig und
die Phantasie, sie umzusetzen, sondern auch die notwendige Unterlage an
Sachkenntnis.
Schließlich und endlich geht es auch um die Kraft des Beispiels, die
Kommunikation und die Reflexion praktischer Erfahrung, die im
zivilgesellschaftlichen Engagement an den verschiedensten Stellen bereits
gemacht worden sind. Es geht um die Anerkennung der vielen konzeptionellen Beiträge,
die bereits geleistet worden sind. Es geht um konzeptionelle Weiterarbeit und
Zusammenarbeit im weitesten Sinn.
Vertrauen wir diesem Prozess! - Nicht blind, sondern im Vertrauen auf die
Partner, aber auch auf die eigene Kraft, aus bisher Erarbeitetem und neu zu
Entwickelndem fruchtbare Beiträge in ihn einbringen zu können.
"Welcome Porto Alegre 2003"
Der "Porto-Alegre-Prozess" kann auch in Zukunft hier beitragen.
Dazu am Schluss noch ein Wort: Mancher hat für eine radikale Dezentralisierung
des Forums im kommenden Jahr plädiert. Nachvollziehbar: letztlich muss lokal
und regional gehandelt werden, wenn eine neue soziale Wirklichkeit entstehen
soll. Dennoch hat man sich entschlossen, für ein drittes Forum 2003 wiederum
nach Porto Alegre einzuladen.
Das ist wohl begründbar, auch wenn die Teilnahme an globalen Ereignissen
dieser Art für die kleinen und finanzschwachen Organisationen ein Problem
darstellt (Sponsoren, hört die Signale!). Denn die Begegnung auf globaler Ebene
ist ein wesentliches Element der Identitätsfindung der Zivilgesellschaft und
gibt Impulse, die auf die Selbstorganisation vor Ort zurückwirken. 2004 will
man sich dann in Indien versammeln, einem Land, in dem die zerstörerischen
Folgen neoliberaler Globalisierung so greifbar sind, in dem aber eine starke
Zivilgesellschaft sich diesen Entwicklungen entgegenstemmt.
Die Bildung lokaler Foren hat begonnen, regionale Foren entstehen ebenfalls.
So soll es ein europäisches Sozialforum geben, das voraussichtlich Ende dieses
Jahres in Italien und 2003 in Paris stattfindet. Die entscheidende Frage wird
sein, ob es gelingt, den pluralen Ansatz des Forums bzw. der Foren
durchzuhalten. Das ist weniger eine Frage des Veranstaltungsortes als des
Selbstverständnisses der Akteure.
Anmerkungen
1 Unter ihnen war der SPD-Abgeordnete Herrmann
Scheer. Sie nahmen an einem parallel stattfindenden Forum der Parlamentarier
teil.
2 Die beste mir bekannte Schilderung der
Ereignisse von Seattle findet sich bei Maria Mies: Globalisierung von unten. Der
neue Kampf gegen die wirtschaftliche Ungleichheit. Hamburg 2001.
3 Francisco Whitaker, I. Weltweites Sozial-Forum
- Ursprung und Ziele (freie Übersetzung von Doris Henrichsen), siehe www.ATTAC-netzwerk.de/stuttgart/dokumente/debatte-charta-wsf.htm
4 Junge Welt, 1.2.2002
5 "David gegen Goliath - Der Aufstand gegen
die Globalisierung", Dokumentation von Martin Kessler (ARTE/ZDF, 16.11., 22
bis 22.55 Uhr)
6 Vgl. Rundbrief 2/2001.
7 Das Dokument in ganzer Länge kann
heruntergeladen werden auf den Internetseiten des IFG: www.ifg.org.
8 Francisco Whitaker, a.a.O.
9 http://www.ATTAC.org/fra/asso/doc/zenith07.htm
10 Nicola Liebert, " Wirtschaftselite setzt
auf Skepsis", in: TAZ vom 4.2.02, S. 5.
11 TAZ, a.a.O.
12 Ich kann vielem zustimmen, was Uwe Henrich in
der Märzausgabe des Rundbriefs Dreigleiderung, S. 26ff. schreibt. Aber an
dieser Stelle besteht offensichtlich zwischen uns Klärungsbedarf. Ich befürchte
eben, dass es nicht mehr möglich sein wird, "Rahmenbedingungen
`angemessen' festzulegen" (Henrich), wenn das WTO-Regime voll greift.
Diesen Beitrag haben wir mit freundlicher Genehmigung
dem "Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus", März 2002
entnommen. Dieser und weitere Texte sind auch auf der Website www.sozialimpulse.de
zu finden.