KONGRESS DER BUNDESKOORDINATION INTERNATIONALISMUS IN KASSEL
VON "ANEIGNUNGS-AKTIONEN" BEGLEITET
Das Ende der Bescheidenheit
Samstag in Kassel: Als die Straßenbahn am
Holländischen Platz zum Halten kommt, wird sie von über 150 Menschen umringt.
Sie pappen mit viel Tapetenkleister bunte Plakate an die Bahn: "Solidarität
mit Florida Rolf" und ähnliche Slogans sind darauf zu lesen. Ein junger
Mann klebt einen gelben Sticker über den Fahrplan der Kasseler
Verkehrsgesellschaft: "Zu teuer". Dann fahren Dutzende ohne Ticket
einer Innenstadtaktion unter dem Motto "Kassel umsonst" entgegen.
Jutta Sundermann - Die Bundeskoordination
Internationalismus (BUKO) hatte für das Himmelfahrtswochenende unter dem Titel
"Ende der Bescheidenheit" zu ihrem 27. Kongress an die
Gesamthochschule Kassel eingeladen. Rund 800 Menschen kamen. In Workshops und
großen Diskussionen setzten sie sich mit dem Begriff "Aneignung" und
mit der Frage auseinander, ob dieser als Kampfparole gegen Neoliberalismus
taugt. "Internationalismus muss heute vor der Haustür beginnen",
betonte Alexander Schudy vom BUKO-Sprecherrat. Aus Unmut über Sozialabbau könnten
neue Formen des Widerstands entstehen. Was mit Massenbesuchen ohne
Eintrittskarte in Schwimmbädern, Schwarzfahreraktionstagen oder kleinen
Umsonstläden begann, wird in immer mehr Städten praktisch. "Berlin
umsonst" oder "Hamburg umsonst" nennen sich die Initiativen, die
den Kongress für die Planung gemeinsamer Aktivitäten nutzten.
Einhellig stimmten die Tagungsbesucher der Aussage zu, dass man der
konzertierten Umverteilung von unten nach oben Widerstand entgegensetzen müsse.
Nur über das Wie gibt es Differenzen, etwa über die Frage, ob sich mit
Aktionen der "Aneignung von unten" Kapitalismuskritik wirksam
artikulieren lässt. Ganz konkret gab es Debatten darüber, ob die Botschaft der
mehrstündigen Innenstadtaktion am Samstag mit "kostenlosem Einkaufen"
beim Bekleidungskonzern H&M trotz des "Sachschadens" und des
folgenden Polizeieinsatzes vermittelbar sei. Aktivisten hatten dabei so gut wie
sämtliche Waren einer Kasseler H&M-Filiale auf die Strasse getragen.
Die prominenteste Einzelveranstaltung des Kongresses war das Podium am
Freitagabend: "Osterweiterung der EU: osteuropäische Perspektiven
internationalistischer Politik". Gabriella Farkas vom Budapester Women's
Study Centre, Anca Sandescu vom Peace Centre im rumänischen Cluj sowie Anna
Rzymska von ATTAC Warschau berichteten über ihre Arbeit und ihre Annäherung an
die linke Bewegung in Westeuropa. Die Diskussion zeigte, dass es zu gemeinsamer
Praxis und gegenseitigem Verstehen noch ein weiter Weg ist. Sprachbarrieren, ökonomische
Schwierigkeiten, unterschiedliche Traditionen und politische Kultur in Ost und
West trügen dazu bei, "dass manche Linke hierzulande sich den Zapatistas
in Chiapas näher fühlen als den Mitstreitern nur wenige hundert Kilometer östlich",
befand Gisela Neunhöffer, die die Veranstaltung moderierte. Dennoch zeigten der
volle Saal und der Verlauf der Debatte, dass das Interesse aneinander groß ist.
Während des Kongresses stellte auch die BUKO-Kampagne gegen Biopiraterie
ihre Arbeit vor und rief anlässlich des internationalen Tages der biologischen
Vielfalt zu Aussaataktionen auf. "Widerstand keimt auf", verkündeten
ein großes Transparent und zahllose Flugblätter mit angehefteten Saatguttütchen.
Die Kampagne streitet gegen die Demontage des weltweiten Bauernrechtes, Samen
aus der eigenen Ernte wieder auszusäen. Im Zuge der Verschärfung geistiger
Eigentumsrechte, von Patenterteilungen und Gentechnologie versuchen die großen
Konzerne derzeit, sich die Kontrolle über alles, was angebaut wird, anzueignen.
Gegen die Privatisierung des Gemeineigentums an Nutz- und Heilpflanzen und von
traditionellem Wissen protestieren immer mehr Betroffene rund um den
Globus. Während die Kampagne gegen Biopiraterie erst seit zwei Jahren arbeitet,
konnte die BUKO-Pharma-Kampagne in Kassel bereits ihren 20. Geburtstag feiern.
Das Theaterprojekt "Schluck und weg" entlarvte auf dem Kasseler Königsplatz
das Treiben skrupelloser Pharmakonzerne.
Im kommenden Jahr soll in Hamburg an die Kasseler Diskussionen unter dem
Motto "innere und äußere Landnahme - Kolonialismus und
Imperialismus" angeknüpft werden.
Aus: junge Welt, 24.5.2004