SEATTLE:
Macht in Frage gestellt!
Proteste gegen die WTO zwischen Erfolg und
Lethargie, emanzipatorischen und nationalistischen Tönen
Die WTO-Konferenz in Seattle ist gescheitert - zumindest vorläufig.
Woran es am Ende lag, kann zwar unterschiedlich bewertet werden, jedoch zeigten sich
BeobachterInnen und Presse einig: Der massive Protest hat entscheidend dazu beigetragen.
Jörg Bergstedt, Reiskirchen - Das ist mehr als z.B. beim Scheitern des MAI. Die
Proteste aus Basisgruppen sowie den deutlich betroffenen Menschen in ärmeren Randzonen,
außerhalb der Metropolen waren dort noch eher bescheiden, aber sie trugen das Thema in
die Öffentlichkeit. Bedenken einiger Nationalstaaten stellten das geheim ausgehandelte
Investitionsschutzabkommen ist Frage. Über was es dann stolperte, ist schwer zu sagen.
Bei der WTO-Sitzung war der Protest bereits deutlich stärker. Hinzu kamen die Uneinigkeit
der Industrienationen, z.B. der Streit zwischen der EU und den USA in Agrarfragen und die
mangelnde Bereitschaft, Forderungen zu Umweltschutz und Gerechtigkeit einfließen zu
lassen. Das reichte. Die WTO scheiterte - und damit wurde etwas wahr, was vorher sowohl
von Regierungen und Konzernen als auch von angepassten Verbänden und Organisationen
(NGOs) als unmöglich abgetan wurde. Der Widerstand gegen Herrschaft und neoliberale
Umgestaltung hat erstmals in einer politisch bedeutsamen Frage eine Sieg errungen - so,
wie wenn der Castor-Protest einen Castor zum Umkehren zwingen würde.
Die Proteste gegen die WTO-Konferenz in
Seattle sowie zum parallel ausgerufenen Global Action Day haben eine Qualität erreicht,
die eine interessante Grundlage für einen neu belebten Widerstand bilden kann. Sie haben
sehr vieles deutlich gemacht, aus dem heraus die Debatte um politische Positionen und
Strategien weiterentwickelt werden kann. International, vor allem aber in Deutschland geht
es nun darum, aus dem Geschehenen zu lernen. Linke, alternative, soziale, ökologische
oder sich sonstig bezeichnende Gruppen und Zusammenhänge haben bewiesen bekommen, dass
die alten Rezepte linker Kaderstruktur und langweiliger Großaktionen ebenso wenig zum
Widerstand und zur politischen Veränderung taugen wie die anbiedernde Haltung der
Verbände und Organisation, die meinten, die WTO in Details beraten zu müssen, weil das
Gesamte doch nicht zu verhindern sei. Die Realität ist nun das beste Argument gegen
NGOisierung und Kaderstrukturen. Radikale und emanzipatorische Aktion ist möglich. Es
gibt eine Alternative zu Anbiederung und Kadern. Sie muss weiterentwickelt werden - in
ihren politischen Positionen und der Praxis kreativer, direkter Aktion.
Gegenmacht von unten
- zur Frage der Aktionsstrategien
Die WTO in Seattle war vom Ereignis her mit
dem Weltwirtschaftsgipfel im Juni in Köln vergleichbar. Die Sachfragen, die auftretenden
Politgrößen und der Popanz rund um die Veranstaltungen hatten etliche Ähnlichkeiten.
Nicht vergleichbar ist jedoch der Protest gewesen. Während in Deutschland (Köln im Juni
1999) einerseits linke Dominanzkultur vorherrschte und von wenigen dominierte Kader
zentrale "linksradikale" Demonstrationen planten sowie andererseits bürgerliche
und angepasste Verbände in einem zweiten Bündnis ihre Forderungen auf SPD-Programmatik
runterdebattierten und sanfte Kongresse und Veranstaltungen durchführen, galt in Seattle
das Ziel eines vielfältigen, auf handlungsfähigen Basiszusammenhängen basierenden
Aktionskonzeptes. Das war nicht ganz neu: Am vergangenen Global Action Day, eben aus
Anlass des Kölner Weltwirtschaftsgipfels, zeigte sich die deutsche politische Bewegung
zwar erstarrt und konzeptionslos, in London aber wurde am 18.6.99 schon ausgeführt, was
in Seattle dann noch in größerem Maßstab funktionierte. Doch nur wenige politische
Gruppen nahmen damals wahr, was in London geschah (siehe unter
http://www.j18.org oder dokumentiert im Köln-Reader "Vom Gipfel kann es nur noch
aufwärts gehen ..."). Noch schlimmer: Angepasste Verbände oder linke Kadergruppen
verurteilten die offenen Aktionsstrukturen mit dem Hinweis, dass dann auch bürgerliche
oder rechte Gruppen mitmischen konnten, andere verurteilten die Radikalität. Und sie
feierten ihre zentralistischen und überwiegend inhaltsleeren Demonstrationen in Köln als
Erfolg ab.
Wenn Seattle in Deutschland gelegen hätte,
dann hätte es in der Vorbereitung die klassischen Probleme gegeben:
* Verbände und Organisationen (NGOs)
hätten gefordert, sich von Gewalt zu distanzieren und auch nur solche Aktionskonzepte zu
fahren, die Gewalt unmöglich machen. Dazu hätten sie ihre Konzepte im Vorfeld mit der
Polizei absprechen wollen.
* Über die Aktionsinhalte wäre es zum
Streit gekommen, weil gefordert worden wäre, alle beteiligten Gruppen müssten genau die
gleichen Positionen haben. Darüber wäre es zum Streit gekommen, das Bündnis hätte sich
in mehrere gespalten, innerhalb der Teilbündnisse wäre es zu weiteren Ausgrenzungen
gekommen.
* Als Mittel, sich Dominanz zu verschaffen,
wären die Androhung des Entzugs von Geldern oder Infrastruktur von Seiten einiger oder
aller NGOs, direkte Beschimpfungen oder Ausgrenzungen von Seiten kaderorientierter, linker
Gruppen sowie das Einforderung von wichtigen (natürlich den eigenen) gegenüber
unwichtigen Politikfeldern ständig vorgekommen.
* Durch die Kooperation erheblicher Teile
politische Bewegung mit Presse, Polizei und Staat wäre es letzteren leicht gefallen,
selbstorganisierte und kreative Aktionsgruppen abzutrennen und als Splittergruppe nach
Belieben zu schikanieren. Vor allem die NGOs hätten sich wahrscheinlich noch öffentlich
von Direkten-Aktionsgruppen distanziert.
* Während sich NGOs in Sachen
Öffentlichkeitsarbeit vor allem an den Interessen der bürgerlichen Medien ausgerichtet
hätten, würden Medien, die sich zur politischen Bewegung zugehörig oder als linke
Opposition verstehen, zum großen Teil der konkreten Aktion skeptisch gegenübertreten und
sie entweder verschweigen oder statt einer kritischen Begleitung und Mitwirkung vor allem
arrogant Missstände zum grundlegenden Übel hochstilisieren und kreativ-vielfältige
Aktionsstrategien auszugrenzen versuchen.
Genau so lief es in Köln - und viel davon
war auch wieder in der Vorbereitung des Global Action Days in Deutschland bzw. der
kritischen Arbeit an der WTO-Tagung zu sehen. Nur ein Höhepunkt: Bundesdeutsche NGOs
stimmten ihre Strategie in Seattle vor allem mit Regierungsinstitutionen ab und
beauftragten Klaus Töpfer, ihre Positionen in die WTO einzubringen. Töpfer war unter der
Regierung Kohl u.a. Umweltminister und ein Befürworter nicht nur der CDU-Politik, sondern
im besonderen auch der Atom- und Gentechnik ... Die NGOs forderten Verbesserungen in der
WTO und lehnten weitgehendere Forderungen zur Abschaffung der WTO oder die Absage des
WTO-Treffens als illusorisch ab.
NGO-Zeitschriften verschwiegen die
Aktivitäten zum Global Action Day, die meisten "linken" Medien ebenfalls. Die
Jungle World berichtete zweimal vor allem über rechte Gruppen im Widerstand, ohne die
tatsächlichen Aktionen in Deutschland auch nur ein einziges Mal überhaupt zu erwähnen.
Flugblätter mit dem Aufruf zum Widerstand am 30.11. wurden von
Jungle-World-AnhängerInnen weggeschmissen!
Nur einige Beispiele für viele ... aber
das, was trotzdem am 30.11. stattfand, war die beste Antwort!
Der Global Action Day im Überblick
Die Auseinandersetzungen in Seattle waren zweifelsfrei der Höhepunkt
des WTO-Widerstandes. Bis zu 50.000 Personen aus vielen Organisationen und Gruppen und mit
vielfältigen Aktionsideen machten der WTO das Leben schwer. Der AugenzeugInnenbericht
zeigt, dass nichts weiter von der Realität entfernt liegen könnte als die Annahme, es
handele sich um ChaotInnen, die hier ein Event feierten. Ganz im Gegenteil: Die intensive
inhaltliche und strategische Vorbereitung stellt das, was in den letzten Jahren in
Deutschland an Aktionsformen zu finden war (vom 1. Mai über X-tausendmal quer bis zum
Straßentheater) weit in den Schatten. Das war auch am 18.6. in London so - intensive
Vorbereitung und inhaltliche Arbeit waren die Grundlage für den Aktionstag.
In etlichen weiteren Städten der USA kam es noch zu kleineren
Protestmärschen oder Einzelaktionen. Gleiches gilt international: In vielen Ländern kam
es zu Streiks, Demonstrationen oder kleinen Aktionen wie der Anschlag auf die
Shellzentrale auf den Philippinen oder Aktionen gegen McDonalds in mehreren Städten.
Besonders betroffen war die WTO-Zentrale in Genf. Sie wurde schon vor dem 30.11.
symbolisch besetzt und am Global Action Day durch einen Anschlag auf die Stromversorgung
gestört.
Der Widerstand war weltweit mit den auch
beim letzten Global Action Day sowie den internationalen Treffen und Netzwerken z.B. von
PGA (Peoples Global Action) bekannten Schwerpunkten (Lateinamerika, Indien, Westeuropa)
und weißen Flecken (u.a. Afrika, Teile von Mittel- und Osteuropa).
Erstmals gab es diesmal auch etwas breiteren
Protest in Deutschland. In ca. 10 Städten kam es zu organisierten Aktionen, in einen
weiteren zu kleinen oder spontanen Attacken auf Symbole des Neoliberalismus. Die
Aktionsspanne reichte von zivilem Ungehorsam im Straßenverkehr (z.B. in Hannover oder
Tübingen) über Sachbeschädigung z.B. gegen die Modernisierung von Bahnhöfen,
Straßentheater, Aktionen vor ausgewählten Großkonzernen oder anderen Symbolen
neoliberaler Ausbeutung (u.a. Siemens, adecco, Expo 2000) sowie gegen Abschiebung und ihre
Handlanger (z.B. Lufthansa) bis zu größeren Protestumzügen mit kreativen Aktionen z.B.
in Berlin auf der Spackparade oder in Bochum auf der Ruhrpott Action Party, wo neben
gelungenen Kleinaktionen allerdings noch viele TeilnehmerInnen das klassische linke
"Gelatsche in schwarz" praktizierten und Symbole wie die Lufthansafiliale,
Burger King oder die Deutsche Bank geschont wurden. Sehr unterschiedlich waren die
TeilnehmerInnenzahlen in den verschiedenen Städten. Die größte Aktion war die
Spackparade in Berlin mit ca. 1.000 TeilnehmerInnen.
Resümee:
Ein Erfolg, wenn es ein Schritt zu mehr wird
Der Global Action Day unterschied sich von
sonst typischen Ein-Punkt-Bezügen in politischen Bewegungen in Deutschland darin, dass
von vorneherein die Idee bestand, den 30.11. als ersten Schritt politischer Praxis hin zur
Entwicklung einer breiten Widerständigkeit gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur zu
begreifen. Solche Debatten haben auch tatsächlich in etlichen Städten stattgefunden.
Ziel war und ist es, aus den klassischen Themenfeldern und Ein-Punkt-Bezügen auszubrechen
und einen Widerstand zu entwickeln, der die Machtfrage stellt. Den neoliberalen
Weltbildern, in denen Mensch und Natur der profitablen Verwertung unterworfen werden,
sollen emanzipatorische Gegenbilder entgegengestellt werden. Eigene Visionen, die
Verweigerung und der Kampf gegen die Herrschaft der Ökonomie, der Konzerne, der Nationen
und aller Institutionen, die sie stützen, gehören zu den Elementen dieses Widerstandes.
Er entsteht nicht aus der Retorte, sondern aus der Debatte um Strategien und aus der
Realisierung als politische Praxis.
Der 30. November wäre, ohne diese Hoffnung
auf eine intensive Weiterentwicklung, kaum von politischer Bedeutung gewesen. Eine
öffentliche Wirkung des Widerstandes in Deutschland war nur in einigen Regionen
vorhanden. Etliche Aktionen waren immer noch zaudernd oder erstarrt - wie die politische
Bewegung in Deutschland halt ist (und sicher nicht nur dort). Wenn aber die Debatte
weitergeht, wenn die Bündnisse breiter werden, Grenzen überwunden und kreative
Aktionsstrategien gefunden werden, dann ist der 30.11. der erste Tag politischer Praxis
eines Stranges geworden, der vielleicht wesentliche Bedeutung erlangen kann. Und darüber
gibt es berechtigte Hoffnung: Die ersten Nachbereitungstreffen zeigten gewachsene
Entschlossenheit, die gemeinsame Aktionsfähigkeit über Grenzen hinweg
weiterzuentwickeln. Weitere Regionen wollen die Debatte aufnehmen.
Die nächsten Schritte:
1.5. und Expo 2000
Die bisherige Diskussion beinhaltet neben
den regionalen Aktionen und politischer Praxis zwei weitere Ereignisse als
Kristallisationspunkte im Jahr 2000. Am 1.5. findet der nächste Global Action Day statt -
und damit die Möglichkeit, Aktionsformen und Bündnisse weiterzuentwickeln. Hauptereignis
aber wird dann die Expo 2000 sein. Sie zeigt im Kern eine Welt von morgen - ausgerichtet
an Verwertungsinteressen der Konzerne. Das lässt sich nutzen für einen kreativen und
direkten Widerstand für eine emanzipatorische Welt, gegen alle (!) Institutionen der
Herrschaft von Nationalstaaten über Konzerne, Wirtschaftsinstitutionen, Gefängnissen,
Armeen oder den Grenzen mit ihrer Bewachung und gegen alle sozialen Verregelungen der
Ungleichheit zwischen Menschen. Die Vision des sich entwickelnden Widerstandes, der auch
in seinen inneren Strukturen emanzipatorsicher Ansprüche verwirklicht und Anbiederung an
Staat und Konzerne genauso vehement ablehnt wie Dominanz und Kader, könnte der einfachen
Losung entspringen: London - Seattle - Hannover ...
Weitere Infos im Internet, u.a. über die
deutsche 30.11.-Seite http://come.to/n30.de.
In Berlin hat der Infoladen Daneben einen Pressespiegel erstellt zu Seattle, der für drei
DM erhältlich ist: Liebigstr. 34, 10247 Berlin Tel.: (0 30) 42 01 72 79. mail: daneben@mail.nadir.org Das Gegeninfobüro hat
ganz viele Bilder (und Berichte) gesammelt: http://www.gib.squat.net/millenium/