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Neben die Schiene

Neben die Schiene

von Theresa, Les Compagnons du Tour d'Europe - In der Nähe von Berlin gibt es einen See mit einer Insel darin, in dem ich als Kind Schwimmen gelernt habe. Umrunden konnte man ihn damals jedoch nicht, denn man stieß unweigerlich auf das direkt am Wasser gelegene Urlaubsdomizil von Honecker & Co. Zu jener Zeit war ich noch so klein, dass ich diese Sache eher spannend als unmöglich fand.

Vielmehr regten wir uns Jahre später über die gestörte Ruhe und das getrübte Wasser dieses Fleckchens Erde auf, mit dem ich so schöne Kindheitserinnerungen verband. Natürlich lag die Veränderung an den Wessis, die nach dem Mauerfall aus dem anderen Teil Berlins ins Umland der Stadt strömten. Doch nicht nur deshalb suchten wir den See immer seltener auf.

Als damals alles in Bewegung kam, war ich zehn Jahre alt. Im Oktober 89, gerade als Gorbatschow in Berlin zu Besuch war, erlebte ich eine spannende Nacht im Zentrum Ostberlins. Mit vielen Menschen lief ich "Wir sind das Volk" rufend durch die Straßen. Von nun an waren die Roten die Bösen, hatten uns 40 Jahre lang eingesperrt und ruiniert. Das habe ich hingenommen, auch wenn mir die DDR so nicht in Erinnerung war. Während mein Vater wie so viele Ossis auf unfaßbaren Glücksgefühlen in den goldenen Westen gerutscht war, verstand ich den ganzen Trubel um die Wende nicht. Mein Vater wurde arbeitslos und meine Mutter lernte auf einer ihrer vielen grenzüberschreitenden Reisen eine neue Lebenspartnerin kennen. Scheidung, der See ward vergessen. Die neue Situation im Lande lehnte ich rein gefühlsmäßig ab.

Eindrücke, die mich berührten, waren z.B. das Verschwinden des Tante-Emma-Ladens, die vielen Baustellen und Dauerstaus in den Straßen, der Anstieg der Preise in der Musikschule und im Kino. Bald traten dann so (n)ostalgische Stimmungen auf, in denen man sich mit "weißte noch damals" lachend auf die Schenkel klopfte. Von dem, was ich nach dem Mauerfall über die kritische Situation der DDR erfuhr, wurde mir jedoch bewusst, dass eine Wende kommen musste. Trotzdem, bei dem, was wir jetzt haben, bin ich froh, dass der Großteil meiner Kindheit in der DDR-Zeit lag. Zum Abitur wechselte ich auf eine öffentliche, von Wald und Wiese umgebene Internatsschule in Sachsen-Anhalt. Dort, auf Distanz zum Vorhergehenden, begann ich, kritisch zu betrachten, andere Einflüsse wahrzunehmen und zu überdenken. Ich fing an, mich für breitere gesellschaftliche Kritik zu interessieren und fand in Erich Fromm`s "Haben oder Sein" die Bestätigung meiner Resignation über diese Welt.

Während ich erst den Einzug des Westens mit Neugierde beobachtet hatte, lösten auf einmal die massiven Veränderungen Bedrückung in mir aus; die unzähligen Einkaufsparks vor den Städten, die übervollen Mülltonnen, bettelnde Menschen, Fremdenfeindlichkeit, das hässliche Bunt und Viel in den Schaufenstern und auf den Werbetafeln ...

In der neuen Schule hatte ich ersten Kontakt mit Leuten, die sich in Gruppen für Ausländer und Umwelt engagierten. Wir sprachen öfter davon, nicht in die übliche Schiene rutschen zu wollen: Ausbildung, Arbeit, Rente. Doch die Überlegungen gingen nicht sehr weit. Auch Politik war eher Unterrichtsthema. Nach dem Leistungsdruck des Abiturs, hatte ich von dem Bestehenszwang die Nase voll und ging erstmal nach Frankreich auf einen Biohof. Dort spürte ich, wie gut mir das Landleben tat, und ich bekam Lust, in dieser Richtung weiter zu bleiben. Jedoch fand ich das Familiebdasein bald zu einsam. So suchte ich danach die Gemeinschaft von Longo Mai auf.

Den politischen und Lebensalltag zu teilen, sich für mehr als nur sein eigenes Leben einzusetzen, das finde ich sehr notwendig. Neben der politischen Aktion scheint es mir ebenso wichtig, zum bestehenden System der zwingenden kapitalistischen Marktlogik des grenzenlosen Wachstums eine Lebensalternative zu bieten. Neben lauter Theorien im Kopf, ist es doch letztendlich ein Gefühl, das z.B. wissen möchte, wie das produziert wird, wovon ich lebe.

Aber wie kann man sich wirksam engagieren, dass man sich selbst und den anderen gerecht bleibt ? Mit meinen 20 Jahren habe ich mich noch nicht entscheiden können, wobei ich doch eigentlich schon mitten im Studium oder der Ausbildung stecken könnte! Da ich aber noch nicht irgendwo "stecken" will, sondern mich frei bewegen möchte, mache ich jetzt erstmal eine Reise mit zwei Bauwägen und acht Leuten. Durch die Wanderlehre erhoffe ich mir, einen weiteren Blick über die Möglichkeiten alternativen Handelns zu bekommen, bzw. einfach mal die Nase andernorts reinzustecken, dort praktische Fähigkeiten zu erlernen oder eigene weiterzugeben. Findet sich kein Ort zum Dazukommen, bin ich bereit, gemeinsam mit anderen Leuten etwas neues aufzubauen. Einen Hof in Ostdeutschland z.B. Und eben über Longo Mai habe ich eine Handvoll Leute kennengelernt, mit denen ich schon viel darüber geredet habe, was man alles machen könnte.

Ich hoffe, dass wir uns die Möglichkeiten geben und nehmen können, diese Inspirationen mit vielen anderen in die Tat umzusetzen.

aus "Nachrichten aus Longo mai", Nr. 74 / 1999, Postfach, Ch-4004 Basel

 

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Stand: 07. August 2008