MENSCHENRECHTE / TÜRKEI / KURDISTAN:
Notizen zur Lage der Menschenrechte in der
Türkei
In dem Bermudadreieck von Politik,
Verbrechen und Militär haben die Menschenrechte in der Türkei schlechte Karten.
Umgekehrt dokumentiert das gewaltsame Vorgehen des türkischen Staates aber auch, daß
viele mit seiner Politik nicht einverstanden sind und sich beharrlich widersetzen. Eine
vorläufige Bestandsaufnahme:
Von Gertrud Selzer, Red. Saarland - Am 31.5. begann die Hauptverhandlung gegen Abdullah Öcalan vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara und endete am 29.6.99 wie
erwartet mit der Verkündung des Todesurteils. Die Staatssicherheitsgerichte in der Türkei,
vor denen alle politischen Verfahren stattfinden, sind selbst nach Meinung des Europäischen
Parlamentes nicht unabhängig, da jahrelang einer der Richter vom Militär eingesetzt
wurde. Auch wenn dies kurz vor Ende des Verfahrens gegen Abdullah Öcalan
aufgrund internationaler Proteste geändert wurde, kann es nicht über die Dominanz des
Militärs über die Justiz hinwegtäuschen. Die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan, der seit seiner Entführung aus Kenia im Februar '99 in Isolationshaft
auf der Insel Imrali festgehalten wird, Folter und Bedrohung seiner AnwältInnen, lassen
befürchten, daß die vom türkischen Staatsanwalt geforderte und vom Gericht
ausgesprochene Todesstrafe auch vollstreckt wird. Zumindest muß aber davon ausgegangen
werden, daß der türkische Staat Abdullah
Öcalan als politische Geisel in seinen
Händen behält, um damit Druck auf die verschiedenen Strömungen der PKK sowie den von
ihr repräsentierten KurdInnen auszuüben.
Die AnwältInnen wurden am 30. April bei der
vorbereitenden Gerichtsanhörung für den Prozeß von Polizisten und ZuschauerInnen
geschlagen und getreten. Alle RechtsanwältInnen wurden dabei verletzt, 5 von ihnen
schwerer. Einschüchterung und Verhinderung der Verteidigergespräche sind an der
Tagesordnung. Die Aufrufe der AnwältInnen werden von den europäischen Regierungen
genauso ignoriert wie die ungeheure Zahl der Menschenrechtsverletzungen in den letzten
Jahren in der Türkei. Über 3.500 zerstörte Dörfer, 2 Millionen KurdInnen auf der
Flucht, über 600 Verschwundene, ermordete JournalistInnen um nur einige der Zahlen in
ihrer zynischen Nüchternheit zu nennen. In einem Ad-Hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes
zur aktuellen Lageentwicklung in der Türkei nach der Festnahme Öcalans vom 25.2.1999 heißt
es, bisher ohne Konsequenzen für die bundesdeutsche Abschiebepolitik "die
innenpolitische Lage in der Türkei (ist) nicht einfacher geworden". Eine mehr
als sanfte Umschreibung für die tatsächlichen Zustände in der Türkei.
Herrschaft des Revolvers
Akin Birdal, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD) sagte kurz nach dem
Mordanschlag, den er nur knapp überlebte, im Mai 1998: "Die Gewalt ist zu einer
dominierenden Erscheinung in der türkischen Gesellschaft geworden. Die Herrschaft der
Demokratie und des Gesetzes ist durch die Herrschaft des Revolvers und der rohen Gewalt
ersetzt." Schon damals gab es in den türkischen staatsnahen Medien eine
Hetzkampagne gegen demokratische Organisationen und MenschenrechtlerInnen, die sich für
ein Ende des Krieges und für eine friedliche, politische Lösung des Kurdistankonfliktes
einsetzen, wie den Menschenrechtsverein IHD, die prokurdische Partei HADEP oder auch die
Samstagsmütter in Istanbul.
Mord im Staatsauftrag
Diese Hetzkampagne hat nichts von ihrer Schärfe
verloren. Im Gegenteil noch weiter angeheizt durch staatliche Stellen und durch die
Wahlergebnisse vom 18.April, mit der nationalen Volkspartei MHP, den türkischen
Faschisten als zweitstärkster Partei (18% der Stimmen), die sich zukünftig auch an der
Regierung beteiligen wird. Die Grauen Wölfe (MHP), die auch zu Teilen der sog.
Konterguerilla angehören, sind für eine Vielzahl von Morden an SozialistInnen,
GewerkschafterInnen, StudentInnen und KurdInnen verantwortlich. Akin Birdal tritt am 6. Juni eine einjährige Haftstrafe an, zu der er im Juli 1998
wegen "Separatismus" nach Artikel 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuches
verurteilt wurde. Unter den Verdacht des "Separatismus" gerät, wer in der Türkei
über eine Kurdistanfrage spricht (offiziell wird nur von einem Terrorismusproblem
gesprochen) und für eine politische Lösung statt einer militärischen plädiert. Birdal
ist einer von vielen unliebsamen MenschenrechtlerInnen und JournalistInnen, die in der Türkei
wegen "Separatismus" verurteilt in den Gefängnissen sitzen. Deshalb startet der
IHD im Juni dieses Jahres eine Kampagne für die Meinungsfreiheit und eine weitere
Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe.
Ihr stiller Protest ist dem türkischen
Staat zu laut:
Die Samstagsmütter
Die Samstagsmütter, die seit Mai 1995 jeden Samstag
regelmäßig gegen das "Verschwindenlassen" ihrer Angehörigen demonstrierten,
mußten ihre Aktionen im März dieses Jahres vorläufig einstellen. Immer wieder wurden
ihre Demonstrationen von Polizei und Sicherheitskräften auseinandergetrieben, die Frauen
geschlagen und festgenommen. Inzwischen ist die Bedrohung so massiv, daß die Frauen nicht
mehr auf die Strasse gehen können. Die Frauen, die 1996 den Menschenrechtspreis der
Internationalen Liga für Menschenrechte erhielten, sagen ähnlich wie die Madres der
Plaza de Mayo in Argentinien im Hinblick auf ihre verschwundenen Angehörigen:
"Lebend habt ihr sie uns genommen - lebend wollen wir sie zurück". Seit 1980
sind in der Türkei über 600 Personen in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen oder einfach
verschwunden. Fast nie kommt es dabei zu Strafverfahren gegen die Sicherheitskräfte. Zum
Beispiel wurde Hasan Ocak am 21.3.1995 festgenommen. 55 Tage später ist er
auf einem Friedhof für Unbekannte gefunden worden. Nach seinem Auffinden, begann am
25.5.1995 die erste Aktion der Samstagsmütter.
"... nicht ganz frei, aber auch nicht
völlig manipuliert":
Graue Wölfe an der Macht
Linke oppositionelle Parteien sind in der Türkei
unerwünscht, das läßt sich gut am Vorgehen des Staates gegen die prokurdische Partei
HADEP erkennen. Zwischen Februar und April 1999 wurden 5 Mitglieder des Hauptvorstandes,
30 Provinzvorsitzende und Funktionäre, 35 Bezirksvorsitzende und 4031 Mitglieder der
Demokratischen Volkspartei HADEP verhaftet. Darüber hinaus noch zahlreiche KandidatInnen
für die Parlaments- und Kommunalwahl. Cafer
Demir, Vorsitzender des
Menschenrechtsvereins in der Provinz Elazig bezeichnete die Wahlen als "nicht
ganz frei, aber auch nicht völlig manipuliert". Viele Kundgebungen und
Demonstrationen der HADEP wurden verboten, alle ausländischen WahlbeobachterInnen wurden
behindert, es gab Wahlmanipulationen, Vertriebene sind in der Regel nicht in Wählerverzeichnisse
eingetragen, viele Stimmen mußten offen abgegeben werden. Trotzdem hatte die HADEP in den
kurdischen Gebieten große Wahlerfolge und stellt die Bürgermeister der Städte Batman,
Bingöl, Hakkari, Siirt, Sirnak und der Regionalhauptstadt Diyarbakir. Gegen sie läuft
aber noch ein Verbotsverfahren. Die HADEP wäre nicht die erste kurdische Partei, die
verboten würde, auch hier dient als Begründung: Separatismus.
Die BRD-Türkei-Connection
Die Lage der Inlandsflüchtlinge, die im
Westen der Türkei in provisorischen Zeltstädten und "Über-Nacht-gebauten-Häusern"
(Gecekondus) überleben versuchen, läßt einen Begriff, wie "inländische
Fluchtalternative" nur noch zynisch erscheinen. Sicherheitskräfte und Graue Wölfe
überfallen die Siedlungen und zerschlagen das Wenige, was sich die Menschen wieder
aufbauen konnten. Etwa 10 Millionen Menschen leben in der Türkei an der Grenze zum
Verhungern. Die Fotos von den kurdischen Elendsvierteln, den Gecekondus, sprechen für
sich.
Der Krieg in Kurdistan hat an seiner
Brutalität nichts verloren und die türkische Armee ist mehrfach weit nach
Irakisch-Kurdistan einmarschiert. Nach einer Erklärung der ARGK (militärischer Arm der
PKK) von Mitte Mai 1999, setzte die türkische Armee Raketen mit chemischen Sprengköpfen
gegen die Guerilla ein. Eine Aussage die zum einen von Vertriebenen ebenfalls erhoben wird
und zum anderen durch Beobachtungen vor Ort und Photos aus dem Kriegsgebiet neue Nahrung
erhält. Man braucht jedoch nicht nach Kurdistan zu fahren, um die Verfolgung der
KurdInnen in der Türkei zu sehen. Ein Besuch in Ankara oder Istanbul reicht vollkommen.
Der Krieg selbst wird zwar im Osten des Landes geführt, hat aber enorme Auswirkungen auf
die Menschenrechte und die Lebensbedingungen im Westen der Türkei.
Und hier korrespondiert die Politik der
europäischen Staaten und der rot/grünen Bundesregierung mit den
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei: Kurz vor den Wahlen in der Türkei wurde der
kurdische Sender MED-TV, der mit einer britischen Lizenz aus Brüssel sendete, auf Druck
der türkischen Regierung verboten. Dem NATO-Staat Türkei konnte man während der
Luftangriffe auf Jugoslawien nur schwierig seine Wünsche abschlagen bzw. ihn öffentlich
kritisieren. So gibt es in der Bundesrepublik keinen Abschiebestopp für KurdInnen, keinen
Stopp der Waffenlieferungen, kein Recht auf Asyl für Kriegsdienstverweigerer und
Gefolterte.
Während die Grünen in ihrer
Oppositionszeit regelmäßig gut recherchierte Berichte über Folterungen abgeschobener
KurdInnen veröffentlichten, betreiben sie heute keine grüne, sondern deutsche Außenpolitik
(O-Ton Josef Fischer) und liefern KurdInnen ihren Folterern aus.
Ausblick - Kern des Konfliktes ist die
Beteiligung am Reichtum Kurdistans
Eine politische Lösung der Kurdistanfrage
wird es nur geben, wenn es Antworten auf die Kernfragen des Konfliktes gibt. Entgegen der
veröffentlichten Meinung der westlichen Wertegemeinschaft, die auch von kurdischer Seite
manchmal kolportiert werden, geht es dabei nicht um einen kulturellen oder gar
folkloristischen Konflikt. Kurdische Tänze könnte der türkische Staat jederzeit
zulassen; die kurdische Sprache im begrenzten Rahmen auch. Im Kern geht es um die
Beteiligung an den politischen und materiellen Ressourcen des Landes. Mit seinen Öl- und
Wasservorkommen ist Kurdistan reich. Ein Reichtum allerdings, der bisher seinen
BewohnerInnen wenig gebracht hat und eher Begehrlichkeiten in Ankara weckte. Mit den
beiden Flüssen Euphrat und Tigris verfügt Kurdistan in einer insgesamt wasserarmen
Region über einen begehrten und konfliktträchtigen Rohstoff.
Die Autorin ist Mitarbeiterin der AKTION
3.WELT Saar und des BUKO (Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Hamburg)
und hielt sich in den vergangenen Jahren mehrfach in der Türkei sowie im kurdischen
Gebiet auf; zum Beispiel zu Gesprächen mit den Samstagsmüttern in Istanbul. Für beide
Organisationen arbeitet sie mit im Rechtshilfeverein AZADI (deutsch.: Freiheit) für
kurdische politische Gefangene in der BRD. Auf Anfrage referiert sie auch zu dem Thema
"Der Kurdistankonflikt & Möglichkeiten einer politischen Lösung".
Terminabsprachen und weitere Informationen: AKTION 3.WELT Saar, Weiskirchener Str. 24,
66679 Losheim, Tel. 06872/9930-56, Fax-57, e-mail: a3wsaar@t-online.de