Auf der Fahrt nach Belgrad, Pfingsten,
23./24. Mai 1999
Ankunft in Novi Sad nach Mitternacht, um
vier Stunden
verspätet, weil ungarische Grenzpolizei den Bus aus
Jugoslawien, der uns aus Budapest abholen sollte, abgewiesen
hatte. Dem Fahrer gelang die Einreise dann über einen
anderen Grenzübergang. Novi Sad liegt bei unserer Ankunft im
Dunkeln, totaler Stromausfall, weil wieder einmal eine
Graphitbombe der NATO ein Kraftwerk getroffen hat. Um 23 Uhr
war Luftalarm gegeben worden, um 6
Uhr früh gibt es Entwarnung. Im Stadtgebiet von Novi
Sad sind diesmal keine Bomben eingeschlagen, aber in
20 Kilometern Entfernung.
Zwei Kollegen des jugoslawischen
Gewerkschaftsbundes, die
beide jahrelang in Deutschland gearbeitet haben,
begleiten uns ab jetzt. Wir besuchten die zerstörte
petrochemische Fabrik. Sie liegt auf einem Gelände von etwa
zwei mal zwei Kilometern. Elf Angriffe haben sie zum großen
Teil zerstört. Der Schaden wird auf eine Milliarde US-Dollar
beziffert. Hier und in dem zweiten petrochemischen Werk in
Pancevo haben zwanzigtausend Menschen ihre Arbeitsplätze
verloren. Ob die Fabriken je wieder aufgebaut werden können,
wird sich erst nach Bodenuntersuchungen herausstellen, die
Monate dauern. Wir
werden vor dem Berühren der weit verstreuten riesigen
Kesselteile und anderen Metalltrümmern gewarnt wegen
Strahlungsgefahr durch Uranmunition (abgereichertes
Uran).
In dem Arbeiterwohnviertel Detelinara
besuchen wir
eine Grund- und Hauptschule, die dreimal angegriffen
wurde. Der Rektor kann sich die wiederholten "punktgenauen"
Angriffe auf seine Schule nicht erklären. In zwei
benachbarten Wohnblocks sind viele Wohnungen zerstört. Ein
68jähriger Dreher berichtet uns, wie er in seiner
Wohnung den Luftangriff erlebte und sich an einem Teppich aus
dem Fenster abseilte, um die Kinder aus dem Keller zu retten.
Er hat hier 33 Jahre gewohnt und regelmäßig mit einem Teil
seines Arbeitseinkommens die Wohnung abbezahlt, bis sie sein
Eigentum war. Jetzt hat er nichts mehr.
Ein Schaden von siebzig bis achtzig
Millionen Dollar
ist durch die völlige Zerstörung des modernen Fernsehsenders
von Novi Sad entstanden, der ein wichtiges Glied
der europäischen Fernsehkette war. Dieser Sender hat täglich
Programme in sechs Sprachen ausgestrahlt und versorgte die
zahlreichen ethnischen Gruppen. Seine Arbeit
für die inter-ethnische Verständigung ist mit dem
europäischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden. Bei einem
Treffen mit jugoslawischen Kolleginnen und Kollegen
im Gewerkschaftshaus von Novi Sad erfahren wir, daß es
in der Vojvodina bis zum Ausbruch des Krieges zwischen
den 26 verschiedenen ethnischen Gruppen keine Zusammenstöße
gegeben habe. Die systematischen Angriffe auf
die Fernsehstationen können keinen anderen Zweck haben, als
den Aggressoren die Propaganda-Oberhoheit zu
verschaffen. Getroffen wird nicht nur die
Informationsfreiheit der jugoslawischen Bevölkerung, sondern
auch unsere, denn über die Opfer der Bombardements erfahren wir in
Deutschland nicht durch die Nato, sondern
meist nur durch das jugoslawische Fernsehen, wenn das
deutsche von ihm Aufnahmen übernimmt.
Beim Übersetzen über die Donau, auf dem
Weg zum
Fernsehsender und den Fernsehstudios, erhalten wir einen
Eindruck von den zerbombten Brücken. Die Donau
ist hier 700 Meter breit. Unter der zerbombten
"Freiheitsbrücke" verlief die Hauptwasserleitung, durch die
Novi Sads südliche Stadtteile mit Trinkwasser versorgt wurden.
Eine Folge ihrer Zerstörung ist, daß das über Jugoslawien
hinaus bekannte herzchirurgische Zentrum von
Novi Sad seine Arbeit einstellen mußte.
Die "Freiheitsbrücke" war nach
dem Sieg über die
deutsche Wehrmacht gebaut worden, die 1941 die alte
Brücke zerbombt hatte, deren gemauerte Pfeiler heute
noch wenige hundert Meter entfernt aus dem Wasser ragen.
Wir sind mit unserm Bus zwanzig Minuten
unterwegs
in Richtung Belgrad, als im Norden in etwa 25 Kilometern
Entfernung hohe schwarze Rauchwolken aufsteigen. Aus den
Radionachrichten erfahren wir, daß die Raffinerie, die wir
vorhin besucht haben, wieder bombardiert wurde.
Eine humanitäre Katastrophe
Kragujevac, 25. Mai 1999
In Belgrad haben wir uns ein Bild von den
Folgen der
Bombenangriffe machen können, z.B. der chinesischen
Botschaft und der unmittelbar daneben liegenden Musikschule.
Nach Mitternacht sind wir zur Belgrader Donaubrücke gegangen,
auf der sich jeden Abend eine Menschenmenge versammelt mit
der angesteckten Zielscheibe "Target". Es gibt Alarm, auf
einmal stehen wir allein auf der Brücke. Die Menschen glauben nach all ihren
Erfahrungen, daß die NATO-Piloten auch Brücken mit
Menschen darauf bombardieren werden. Wir gehen die
zehn Minuten zu unserm Hotel "Moskwa" im Zentrum
der Stadt, ziemlich schnell, aber nicht in den
Luftschutzkeller, sondern bleiben auf dem Zimmer, öffnen die
Fenster und sehen zum Himmel hinauf.
Zehn Minuten vor 4 beginnt die Flak zu
schiessen. Es
hört sich an wie Geprassel, bald näher, dann wieder ferner.
In großer Höhe zieht ein sirrendes, leise pfeifendes
Geräusch über uns. Die Maschinen fliegen in etwa 20
Kilometern Höhe über Belgrad.
Dann unerwartet der Einschlag, nahe, sehr
hart metallisch,
ganz anders als bei Bomben. Das Innenministerium ist
getroffen, das schon einmal bombardiert worden
war. Am nächsten Morgen sehen wir uns die Ruine des
völlig zerstörten Fernsehsenders an. Ein Techniker, der
das Bombardement trotz hohen Blutverlustes überlebt
hat, erzählt uns, er habe wenige Minuten vorher die Etage, in
der seine Kolleginnen und Kollegen getötet wurden, verlassen.
Er habe alle gut gekannt. Aber sechs seien
immer noch vermißt. Nichts sei bisher von ihnen gefunden
worden, als seien sie durch die Hitze verdampft. 130
Kolleginnen und Kollegen des Senders wurden verletzt, einige
sehr schwer. Sie liegen noch in den Krankenhäusern.
Unmittelbar am Sender liegt das Belgrader
Kindertheater vor
einer Kirche, auf der anderen Seite der Straße.
Vom Kirchendach haben sie Leichenteile geborgen. Wir
legen hier an der Ruine des Senders für die 16 Toten Blumen
nieder, neben ein Schild mit dem Motto unserer Reise "Dialog
von unten statt Bomben von oben".
Kragujevac, die Stadt der
Zastava-Automobilwerke, ist
seit der Bombardierung des Betriebes die Stadt der
Arbeitslosen. Von den 200.000 Einwohnern haben durch die elf
Angriffe auf das Werk 37.000 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze
verloren. Hinzu kommen die indirekt Betroffenen der
Zulieferbetriebe, für deren Produkte es keine Abnehmer
mehr gibt. Beim Begrüßungsgespräch im Gewerkschaftshaus
schildert die lokale Vorsitzende Rusica Milsavljovic
die Folgen der Bombardements für die Stadt und spricht
von einer humanitären Katastrophe. Das Gespräch findet
während eines Alarms statt. Wir nehmen wahr, daß sich
die etwa 30 versammelten Zastava-Kolleginnen und Kollegen
durch zwei entfernte Detonationen nicht irritieren
lassen. Eine Frau zuckt die Achseln: "Wir versuchen, normal
weiterzuleben."
Wir übergeben eine von unserer Initiative
gesammelte
Spende, 10.000 Mark. Nichts im Vergleich zu den
Bombenschäden, aber unser Beitrag wird verstanden als Zeichen
der Solidarität aus einem der Aggressorstaaten, dem
Land, dessen Wehrmacht an diesem Ort vor einem halben
Jahrhundert das größte Massaker in Jugoslawien
während der deutschen Okkupation verübt hat. In der
Gedenkstätte für die Opfer legen wir ein Blumengebinde
nieder: "Den Opfern der deutschen Wehrmacht, der Nato
und der Bundeswehr."
Am 21. Oktober 1941 wurden hier
siebentausend Menschen,
darunter 300 Schüler, klassenweise mit ihren Lehrern, als
"Geiseln" erschossen. Ein Gedenkstein erinnert
an den deutschen Soldaten, der sich weigerte, mitzuschießen
und deshalb mit erschossen wurde.
Das Gelände der Gedenkstätte wurde gleich
zu Beginn
des NATO-Krieges getroffen, das Museum am 14. Mai
durch eine in der Nähe einschlagende Rakete schwer
beschädigt. Die Direktorin Slavica Kominac verweist auf die
Symbolik einer durch Bombensplitter beschädigten
Skulptur mit dem Titel "Der Faschismus ist überwunden". Sie
erinnert an den Besuch des Museums durch Petra Kelly Mitte
der achtziger Jahre, die ins Gästebuch schrieb, die Grünen würden
sich dafür einsetzen, daß
sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Bei der Renovierung
des Museums soll ein Raum angegliedert werden, für die
Dokumentation der Bombardements durch die NATO.
Wegen des andauernden Alarms müssen wir die
Besichtigung des
zertrümmerten Zastava-Werkes auf morgen verschieben. Es ist
ein traumhaftes Sommerwetter,
die Akazien verblühen gerade. Rote Mohnfelder in der
Hügellandschaft, bunte Häuser in den Feldern, ein weiter
Blick. Was für ein schönes Land! Hoch oben das Sirren
von Flugzeugen. Sehr fern schießt die Flak.
Wenn die schnellen Sterne kommen
Wieder in Belgrad, in der Nacht
vom 26. zum 27. Mai 1999
Die Summe der bisherigen Eindrücke zeigt
uns, in welchem Maße
sich der NATO-Krieg gegen die Zivilbevölkerung richtet. Die
Bombardements zerstören die Nervenzentren der Produktion und
der Versorgung. Zum Beispiel Kragujevac, die Automobilfabrik
Zastava: Die Trümmer des Werks werden zwar von den Arbeitern
so gut wie möglich aufgeräumt, aber ohne jede Aussicht auf
Wiederinbetriebnahme in absehbarer Zeit.
Die Aufräumzeiten sind extrem kurz. Als wir
in den
Hallen sind, kommt Alarm. Alle verlassen das Gelände,
mehrere hundert Arbeiter, die mit den Aufräumarbeiten
beschäftigt waren. Sie grüßen zurück, als wir sie mit dem
Bus überholen. Auch das Kraftwerk auf dem Betriebsgelände ist
irreparabel zerstört. Es hat auch die Stadt versorgt, mit
Strom und Wärme. Die Bevölkerung fürchtet
den Winter, denn die Wohnungen in den Hochhäusern
haben keine Kamine für Feuerstellen.
Einige von uns besuchen die Familie
Pavlovic. Vater
Radomil, 52, hat 35 Jahre bei Zastava gearbeitet, Sohn
Slobodan, 27, sechs Jahre. Beide sind jetzt arbeitslos. Die
Mutter Milanka ist zuckerkrank. Ihr mußten am 7. April
beide Beine amputiert werden, zwei Tage vor dem schweren
Angriff auf Kragujevac. Wegen der vielen Schwerverletzten,
die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, wurde Milanka
Pavlovic viel zu früh nach Hause entlassen. Bei Alarm und
Luftangriffen muß sie in der Wohnung bleiben, weil der Lift
bei Stromausfall nicht funktioniert und während der
vielstündigen Alarmzeiten nicht
benutzt werden darf. Ihre Beinstümpfe haben sich entzündet.
Es fehlt an Medikamenten, wie überall in Jugoslawien infolge
des Embargos. Spezialmedikamente wie Insulin müssen kühl
gelagert werden, was aber nicht möglich ist, wenn der
Kühlschrank keinen Strom hat.
Bei "Zastava" als staatlichem
Betrieb besteht noch ein
Selbsthilfenetz, das Privatbetrieben fehlt. Für den
arbeitslosen Vater und seinen Sohn gibt es ein
Arbeitsausfallgeld
der Firma von 230 Dinar gleich 25 Mark im Monat. Es ist
für drei Monate garantiert. Das Arbeitsamt zahlt monatlich
100 Dinar, also rund zehn Mark, zunächst für ein
halbes Jahr.
Bei der Abfahrt aus Kragujevac sehen wir
eine lange
Menschenschlange vor einem Tabakladen. Die Ursache
erfahren wir drei Stunden später in Nis (300 000 Einwohner).
Hier ist die größte Tabakfabrik Jugoslawiens
- 2.500 Beschäftigte - total zerstört worden. 1995 hatte die
Fabrik neue Maschinen vom Hersteller Hauni aus Hamburg
gekauft. Die Wasserpumpenfabrik in Nis - 1.500 Beschäftigte -
wurde sowohl von Spreng- wie auch von
Splitterbomben getroffen. Metallteile aus den Lagern des
Werkes flogen bis zu einem Kilometer weit und durchschlugen
Wände und Dächer von Wohnhäusern. Wegen
der vielen Blindgänger aus Kassettenbomben wurde das
Betriebsgelände gesperrt. Es ist fraglich, ob und wann in
dem größten Pumpenwerk des Balkans wieder produziert
werden kann, auch um die Lieferverträge mit ägypten
und den Golfstaaten zu erfüllen.
Im Industriegelände von Nis liegt ein Werk
neben dem
anderen in Trümmern. Auch die Technische Hochschule
wurde beschädigt. Der Vizedekan der Fakultät für Elektronik -
2.000 Studenten -, Professor Milun Jevtic, der in Bochum
studiert hat, führt uns durch die verwüsteten Räume. Der
Detonationsdruck hat Regale mit Büchern
durch die Fenster geschleudert. Im Eingangsfoyer ist eine
nicht explodierte Kassettenbombe ausgestellt, die 130
Splitterbomben enthielt. Studenten haben die Frage "Kada?"
daraufgemalt - "Wann?" Von den amerikanischen
Herstellern ist Januar 2005 als Verfallsdatum aufgestempelt.
Wie in Nis sind in ganz Jugoslawien alle Schulen
und Hochschulen des Landes seit Kriegsbeginn geschlossen.
Eine Brücke über die Nisava wurde am 9.
Mai, dem Feiertag der
Befreiung vom Hitlerfaschismus, so schwer getroffen, daß sie
nur noch für Fußgänger und Radfahrer
passierbar ist. Dabei wurde auch die Wasserleitung zum
Stadtzentrum durchtrennt, das benachbarte griechische
Konsulat und eine dahinterliegende Prothesenfabrik
beschädigt. Die umliegenden Privathäuser sind nun
unbewohnbar.
Eine Splitterbombe ging in der Mittagszeit
auf dem
Marktplatz von Nis nieder, 20 Menschen wurden getötet und
50 verletzt. Der örtliche Vorstand der Gewerkschaft berichtet
von 1925 getroffenen Gebäuden, darunter 18 Schulen. Während
unseres Besuchs schlagen drei weitere schwere Bomben
in Nis ein.
In der kleinen Bergbaustadt Aleksinac erschüttert
uns
das Ausmaß der Zerstörung. Siebzehn Menschen sind bei einem
Angriff getötet und 36 verletzt worden. 36 Häuser wurden dem
Erdboden gleichgemacht. Allein in der Strasse Dujan Trivunac
sind 120 Wohnungen nicht mehr bewohnbar,
die meisten ausgebrannt. Viele Menschen haben sowohl ihr
Heim und ihren Hausrat als auch ihre Arbeit verloren. Das
Bergwerk und viele kleine Betriebe liegen wegen Strommangels
still. Die Einwohner sind vor allem auf die Hilfe von
Jugoslawen im Ausland angewiesen. Der Vorsitzende der
örtlichen Rotkreuzstation, Miodrag Vojnovic, teilt uns
erbittert mit, daß das Deutsche Rote Kreuz seit Beginn des Krieges
keine Hilfe mehr leistet. Immerhin haben wir unterwegs
mehrere Lastwagen mit Hilfsgütern aus Griechenland und einen
Truck aus Rußland gesehen.
Eins der vielen Kinder, die sich zu uns drängen,
antwortet
auf die Frage, was es den Verantwortlichen für die
Bombenkriege sagen würde: "Ich kann nichts sagen, ich will
nur schlafen." Die achtjährige Jana nennt die Flugzeuge am
Nachthimmel "schnelle Sterne". In einem Luftschutzbunker hat
das Serbische Rote Kreuz das Kindertheater "Smeschko" -
Lächeln - eingerichtet. Die Kinder haben den Beton
der Wände bemalt.. Vojnovic macht uns auf die Inschrift eines
der Bilder aufmerksam: "Wir werden siegen, denn wir lieben
unser Land, wir haben kein anderes."
Auch die Fähren gibt es nun nicht mehr
27./28. Mai 1999
Am vorletzten Tag unserer Reise sehen wir in
Belgrad immer
neue Zerstörungen, hören immer mehr Flugzeuge und
Detonationen. Wir erfahren in Gesprächen mit vielen Menschen,
wie der Krieg das ganze Volk in seinen Würgegriff
nimmt. Tomislav Banovic, der Vorsitzende des serbischen
Gewerkschaftsbundes sagt, die materiellen Schäden nach 64
Tagen Nato-Bombardement seien bereits größer als alle
Zerstörungen während des 2. Weltkrieges in Jugoslawien.
Viermal ist das Belgrader Krankenhaus Dr.
Dragisa Misovic am
Bulevar Mira (Friedensboulevard) von NATO-Bomben getroffen
worden. Es ist benannt nach einer ärztin, die
von den Nazis erschossen wurde. Der stellvertretende Chefarzt
Dr. Miodrag Lazic, dem es fernliegt, die massenmörderische
Naziokkupation zu verharmlosen, erwähnt während
unserer Begrüßung: "Hitler hat in Jugoslawien kein
Krankenhaus getroffen".
Im Krankenhaus: Dr. Dragisa Misovic ist die
einzige
jugoslawische Klinik für lungenkranke Kinder. Wir sehen
zerborstene Mauern, die verbogenen Bettgestelle der kleinen
Patienten, beschädigte medizinische Geräte, die sämtlich
deutsche Fabrikate sind. Krankenschwestern suchen in den
Trümmerhaufen nach Behandlungsberichten, die für die
richtige Medikation der Langzeitpatienten unentbehrlich
sind. Die Neurologie ist total zerstört, sie war vor kurzem
renoviert worden. Alle 810 Patienten mußten evakuiert werden.
Die meisten der 1.200 Beschäftigten können ihre Aufgaben
nicht mehr wahrnehmen.
Wir treffen uns mit verschiedenen
Mitgliedern der
bürgerlichen Opposition und aus gewerkschaftlichen Gruppen.
Alle stimmen in dem Unverständnis für die Begründungen
der NATO-Aggression überein. Hier einige Beispiele:
* Sind das die Menschenrechte, die wir jetzt
von der NATO
bekommen? Das erste Menschenrecht ist das Recht auf
Leben.
Wissenschaftler und Vertreter der Grünen
berichten uns
über nicht absehbare ökologische und gesundheitliche
Schäden durch die Bombardements der chemischen Werke
und durch die Verwendung neuartiger Waffen. Professor Dr.
Luka Radijar berichtet, daß der bisher ohnehin schon zu
hohe Phosgengehalt der Luft in der Umgebung des
petrochemischen Kombinats Pancevo durch die Bombardierung um
das Zehntausendfache stieg. "Mein Enkelkind in einer
Hochhauswohnung im 16. Stock hat kein Wasser, keinen Strom,
und die Mutter hat keine Milch. Was hilft dieser Krieg den
Albanern im Kosovo, dessen Dörfer und Städte dermaßen
zerstört und vergiftet sind, daß dort auf lange Zeit kein
Leben mehr möglich ist?"
Im Land wächst die Angst vor völliger
Isolation, nachdem
schon seit langer Zeit durch das Embargo z.B.
wissenschaftliche Kontakte eingeschränkt sind. Mit Beschämung
hören wir, daß wir als erste deutsche Gewerkschaftergruppe
seit Beginn der 90er Jahre begrüßt werden. Daß der DGB alle
Kontakte eingefroren hat, befremdet die jugoslawischen
Kolleginnen und Kollegen. Das Hotelpersonal in Belgrad
verabschiedet uns mit Tränen. Es sind Tränen der Angst vor
der ungewissen, bedrohlichen Zukunft - zeigt uns, daß wir
nicht allein sind. Und hier, wie zum Schluß fast aller
Gespräche: Berichtet die Wahrheit.
Das Volk fürchtet, mundtot gemacht zu
werden. Die
Unterbindung der Satellitenübertragungen von Rundfunkund
Fernsehsendungen hat zur Folge, daß die Weltöffentlichkeit
kaum noch etwas vom NATO-Terror erfährt. Die Abschnürung des
Landes setzt sich dadurch fort, daß wichtige
Informanten z.B. aus Gewerkschaften und Oppositionsgruppen
keine Einreisemöglichkeit mehr in die Bundesrepublik
bekommen. Unser Begleiter Sveta Vladisavljevic, der jahrelang
in Deutschland gearbeitet hat - er war gewerkschaftlicher
Vertrauensmann bei der DEMAG in Düsseldorf - wollte
am 29. Mai nach Düsseldorf fahren, um den DGB-Vorstand
zu informieren und um solidarische Hilfe zu erbitten. Die
deutschen Behörden verwehrten ihm die Einreise.
Auf der Rückfahrt passieren wir noch einmal
Novi Sad,
wo wir am ersten Tag unserer Reise die zerstörten
Donaubrücken gesehen hatten. In der letzten Nacht sind auch
die Anlegestellen der Fährboote, mit denen die Verbindung
zwischen den Stadtteilen an beiden Ufern mühsam
aufrechterhalten wurde, zerbombt worden.
Vor der Ausreise, 28. Mai 1999
Ziel unserer Reise war es, Informationen
aufgrund eigener
Beobachtungen und unmittelbarer Kontakte mit Kolleginnen und
Kollegen in Jugoslawien zu gewinnen und an unsere Kolleginnen
und Kollegen in der Bundesrepublik Deutschland weiterzugeben.
Wir wollten dazu beitragen, den gewerkschaftlichen Auftrag
"Konflikte auf zivilem Wege ohne militärische Gewalt zu
lösen" (DGB-Grundsatzprogramm) zu verwirklichen.
Auf den Stationen unserer Reise - Novi Sad,
Belgrad,
Kragujevac, Nis und Aleksinac - haben wir die Zerstörungen
von Fabriken, Kraftwerken, Krankenhäusern, Schulen und
Hochschulen, Wohnvierteln, Verkehrswegen und Brücken
gesehen und in Gesprächen mit Beschäftigten zerstörter
Betriebe, Ausgebombten, Rote-Kreuz-Helfern, ärzten,
Wissenschaftlern und Vertretern von Gemeinden und
Gewerkschaften erfahren, was die Bombardements der NATO für
die Menschen in Jugoslawien bewirken. Der "saubere Krieg" der
NATO ist kein "Krieg gegen Milosevic", sondern ein Krieg
gegen die Zivilbevölkerung. Die Zentren der Versorgung liegen
in Trümmern, die Arbeitsplätze sind für Jahrzehnte
vernichtet, die Gesundheit vieler Menschen in noch nicht
abschätzbarem Umfang geschädigt, die Jugend ist ihrer
Perspektive beraubt. Und ein Ende des NATO-Terrors ist nicht in Sicht.
Der Auftrag, den uns die Menschen mit auf
die Heimreise
geben, ist einfach: Tragt dazu bei, den Krieg auch nur um
einen Tag zu verkürzen. Laßt uns nicht allein. Helft die
Wahrheit über unsere Lage zu verbreiten.
Es wird schwer sein, diesen einfachen
Auftrag umzusetzen. Wir
bitten unsere Kolleginnen und Kollegen in Betrieben und
Gewerkschaften und alle Menschen, die guten Willens sind, uns
zu unterstützen. Wir fordern alle humanitären Organisationen
in der Bundesrepublik Deutschland auf,
die Not und das Leid der Bombenopfer zu lindern.
Rolf Becker (IG Medien) und Eckart Spoo (IG
Medien/dju)
Spendenkonto: Hilfe für Kragujevac (Josef Bergmann)
Hamburger Sparkasse (BLZ 200 505 50)
Kto.-Nr.: 1230 499 335
Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
gegen den Krieg
Kontakt: Rolf Becker (IG Medien Hamburg) Fax (0 40)
280 32 14, e-mail über h.artus@nikoma.de