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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Dokumentation

DOKUMENTATION AUS: BASLER ZEITUNG 24./25.4.99

Wie, wenn die Geschichte keine Moral hätte?

Die moralische Legitimation des Nato-Einsatzes im Kosovo-Krieg findet in den westlichen Demokratien breite Zustimmung. Aufgrund der jüngsten Geschichte der Nato-Länder und ihrem militärischen Vorgehen muß man jedoch daran zweifeln, daß moralische Absichten gegenüber einer Summe von politischen Interessen wirklich vorrangig waren.

Je größer und sichtbarer das Elend wird, das die Vertriebenen des Kosovo durchleben, desto stärker scheint sich die Überzeugung von der Moralitt des Nato-Luftkriegs gegen Serbien in der Wahrnehmung der westlichen Gesellschaften zu festigen. Die Verbrechen Milosevics und das Elend der Flüchtlinge bestimmen die Wahrnehmung verständlicherweise so sehr, daß sich moralische Überlegungen aufdrängen.

Von Lukas Schmutz, Genf - Die Fokussierung darauf bringt aber mit sich, daß zwei für die politische Analyse zentrale Fragen ausgeblendet oder zumindest allzu nebensächlich behandelt werden. Ob nämlich erstens tatsächlich moralische Ziele und nicht andere Interessen für die Entscheidung der Nato, den Krieg zu führen, leitend waren? Und zweitens, ob der Kontext geeignet war und ist, um die deklarierten Ziele auch effektiv zu erreichen.

Die Schwierigkeit bei der Suche nach verläßlichen Antworten auf diese Fragen ist offenkundig, da die klassischen, historischen Quellen diesbezüglich noch eine absolute Rarität sind. Churchill sagte, im Krieg sei die Wahrheit so kostbar, daß sie mit einer starken Leibgarde von Lügen umgeben werden muß. Deshalb muß man sich darauf beschränken, den Kontext der moralisch deklarierten Vorgänge mit den Instrumenten der Phantasie und des kritischen Zweifels auf ihre Glaubwürdigkeit hin abzuklopfen und zu prüfen, ob sich tatsächlich ein kohärentes Gesamtbild ergibt.

Blenden wir zunächst zurück nach Rambouillet. Nicht erst seit der Diskussion über den Annex B mit seinen - für jeden Vertreter eines unabhängigen Staates - offenkundig inakzeptablen Bedingungen erscheint "Rambouillet" kaum als ein Beispiel für Diplomatie, bei der es tatsächlich um Lösungen mit ihren eigenen Mittel geht. Der UNO-Sonderberichterstatter für Ex-Jugoslawien, der ehemalige tschechische Außenminister Jiri Dienstbier, berichtet, die Delegationen der Konfliktparteien hätten sich ein einziges Mal gesehen: beim Fototermin mit US-Außenministerin Madeleine Albright. Und Politikwissenschafter erklären, daß alle Regeln der Verhandlungstaktik, die angewendet werden, wenn ein Resultat erreicht werden soll, mißachtet wurden: Enge Zeitlimiten wurden gesetzt, die Verhandlungen wurden direkt auf Ministerebene geführt. Das sind starke Hinweise darauf, daß es in Rambouillet darum ging, eine Einigung eben nicht zustande zu bringen. Inhaltlich ging es in Rambouillet - ernsthaft oder nicht - um den Status von Kosovo. Letzte Woche nun unterstrich US-Präsident Bill Clinton in San Francisco die langfristigen Prioritäten der USA in Südosteuropa. Trotz viel humanitärer Rhetorik spielte die Frage des Status des Kosovo darin kaum eine Rolle. Vielmehr geht es um die Integration des ganzen Raumes in das liberale Welthandelssystem. Clintons Augenmerk lag schon ganz auf dem "Wiederaufbau" mit einer Art Marshallplan unter amerikanischer Führung.

Wirtschaftliche Interessen

Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß das US-Außenministerium die Wirtschaftsintegration im Balkan nicht erst seit kurzem und vor allem auch nicht in einer der europäischen Institutionen anstrebt. Vielmehr versuchen die USA seit 1996 in einer SECI (Southeast Europe Cooperation Initiative) genannten, amerikanischen Wirtschaftsorganisation, ein neues wirtschaftliches Standbein in Europa zu entwickeln, das unter anderem geeignet ist, der alten Donauroute Budapest-Belgrad-Nis-Thessaloniki neues Leben einzuhauchen. Im Frühling 1998 hat der für die Umsetzung des Abkommens von Dayton zuständige US-Botschafter Robert Gelbard Serbien ausdrücklich in Aussicht gestellt, in SECI - als erster internationaler Organisation - aufgenommen zu werden.

Angesichts der Langfristigkeit der Balkanpolitik ist interessant, worauf die USA sich in Dayton - wo effektiv verhandelt wurde - mit den anderen Parteien nach dem Bosnien-Krieg einigten. Daß Milosevics Weg nach Dayton mit 200.000 Toten und nicht mit 2.000 wie der nach Rambouillet gepflastert war, ist mehr als ein Detail: Denn auch inhaltlich wurde mit jenem Vertrag nicht versucht, die "ethnischen Säuberungen", die vorangegangen waren, rückgängig zu machen, sondern er sanktionierte sie de facto weitgehend. Noch mehr als Milosevic profitierte sein kroatisches Pendant, Franjo Tudjman, davon: Im Feuerschutz der Nato-Luftschläge von damals konnte dieser Kroatien ethnisch von Serben säubern. 200.000 wurden vertrieben und zum Teil versuchsweise im Kosovo angesiedelt.

Deshalb ist festzustellen, daß alles, was heute als "moralisch inakzeptabel" dargestellt wird, damals sehr wohl mit den Interessen der Supermacht in Einklang gebracht werden konnte. Man kann das Resultat nur nüchtern festhalten: Am Schluß der Nato-Intervention von Bosnien standen einerseits gesäuberte Nationalstaaten, die andererseits von der Nato um so besser kontrolliert werden, als parallel zum Eingriff die entscheidenden Schritte der Nato-Ost-Erweiterung abgeschlossen wurden.

In bezug auf die Definition der US-Außenpolitik hat jedoch zugleich auch das Pentagon - und in mehr oder weniger direktem Verbund mit ihm die US-Waffenindustrie - gewaltiges Gewicht. Im Vorfeld des Nato-Einsatzes scheinen von hier aus zwei Perspektiven von Interesse: Die extrem teuren B-2-Bomber waren vor Kosovo erstens noch ohne Kampferprobung geblieben; die Weiterführung des Programms war deshalb im US-Kongreß höchst umstritten.

Zweitens ist die Waffenproduktion der ehemaligen UdSSR seit den neunziger Jahren aufgrund enormer Preisvorteile eine starke Konkurrenz der westlichen Industrie geworden [...]. Deshalb ist die reale "Demonstration" der Überlegenheit der eigenen Waffen von Zeit zu Zeit wirtschaftlich entscheidend.

Neudefinition der Nato

Pentagon und State Departement standen überdies im Vorfeld des Kosovo-Krieges gemeinsam vor der heiklen Aufgabe, der Neudefinition der Nato ein amerikanisches Gepräge zu geben. Diesbezüglich war hinsichtlich des Nato-Jubiläums eine gewisse Dringlichkeit gegeben. Vor allem aber wurden die europäischen Tendenzen, sich verteidigungspolitisch stärker von den USA abzukoppeln, parallel zur Kosovo-Krise stärker. Die Europäische Verteidigungsinitiative von Saint-Malo im Dezember 1998 markierte nach mehrmaligem Scheitern einen neuen Versuch in dieser Richtung. Zudem war in Deutschland mit Joschka Fischer eine politische Richtung ins Außenministerium gekommen, welche nicht nur die europäische Komponente in den internationalen Beziehungen zu stärken, sondern zugleich auch eine Kurskorrektur von interventionistischen stärker zu präventiven Methoden zu suchen versprach. Diese Tendenzen könnten - um zum unterstellten US-Kalkül zurückzukehren - durch einen Krieg in einer frühen Phase ihrer Entwicklung wohl am ehesten kompromittiert werden.

Die wirtschaftlichen und militärischen Interessen der USA umklammernd, ist wohl durchaus auch relevant, daß die meisten Beobachter heute davon ausgehen, daß die USA die Bedeutung des Euro unterschätzt hatten. Nimmt man von daher all diese Punkte zusammen, muß die Hypothese, daß ein Waffengang auf dem Balkan diversen Interessen der USA entgegen kam und entsprechend als "sinnvolles Szenario" eingestuft wurde, schlicht als realistisch beurteilt werden.

An diese Hypothese schließt sich selbstverständlich unmittelbar die Frage an, warum die Europäer dem Vorgehen nicht nur zugestimmt haben sollten, sondern es nach vier heiklen Kriegswochen immer noch einigermaßen geschlossen mit tragen. Hier könnten, verschiedene durchaus auch konfliktuelle Interessen von Bedeutung gewesen sein. Zunächst ist offenkundig, daß das moralische Argument bei diversen europäischen Politikern effektive Überzeugungen berührt und ihre Arbeit leitet.

Europäische Hintergedanken 

Doch auch hier kann das Wahrnehmen kalter Interessen nicht ausgeschlossen werden. Deutlich ist, daß dem Krieg, vielleicht als Katalysator, Bedeutung für die Entwicklung eines europäischen Akzentes in der Nato-Allianz zugemessen wird. Dabei sind alle Varianten denkbar bis hin zur Überlegung, daß ein Scheitern eines gemeinsamen Offensiv-Abenteuers unter US-Führung ein wünschenswertes Resultat sein könnte. Dieses Szenario ist etwa im französischen Zusammenhang absolut möglich. Ein Anhaltspunkt diesbezüglich ist die im November aufgeflogene Spionageaffäre, bei der ein französischer Nato-Beamter den Serben Luftangriffsziele übermittelt hat.

Auf deutscher Seite wäre im pragmatischen Kalkül von Bundeskanzler Gerhard Schröder etwa die Überlegung denkbar, daß Deutschland die Beteiligung an einem "Ernstfall" - mit welchem Ausgang auch immer - braucht, um erstens außenpolitisch das seiner wirtschaftlichen Dimension angemessene Gewicht zu erringen und zweitens, um endlich der Rolle des europäischen Zahlmeisters zu entschlüpfen. Die völlig ungleiche Lastenverteilung etwa in Flüchtlingsfragen wurde von europäischen Partnern immer mit dem Argument begründet, daß sie die militärischen Lasten zu tragen hätten. Das wäre ein Aspekt, der sehr genau zu den Prioritäten der "Berliner Republik" Schröders passen würde. Der Gedanke, daß ein Bündel harter, interessenpolitischer Überlegungen dieser Art für die Auslösung des Nato-Schlages maßgebender waren als moralische, wäre leichter von der Hand zu weisen, wenn sich nicht von einer zweiten Reflexionsebene her massive Zweifel an der moralischen Intention aufdrängten: Es ist undenkbar, daß die Nato das Szenario einer serbischen Offensive unter den Luftangriffen ausgeschlossen hat. Sollte sie es doch vergessen haben, ist ihre Unfähigkeit derart, daß man auf ihre Schutzfunktion in Zukunft getrost verzichten kann.

Sollte sie es aber bedacht haben, stellen alle damit verbundenen Szenarien der Moralität nun nicht der Absicht, sondern der Kriegsführung ein miserables Zeugnis aus. Entweder hat man die Möglichkeit der Vertreibung als "worst case" in Kauf genommen, ohne die Absicht, den eingetretenen schlimmsten Fall mit folgenden militärischen Schritten wieder rückgängig zu machen. Oder man hat sie toleriert, um durch die "humanitäre Katastrophe" einen Einsatz von Bodentruppen zu legitimieren. Oder - und dafür spricht die Erfahrung der bisherigen Politik im Balkan - man ist an entscheidender Stelle sogar davon ausgegangen, daß in der Region nur ethnisch einigermassen reine Gebilde berechenbar und friedfertig sind. Dieser Überlegung folgend, wäre dann die Kriegsabsicht, eine als unumgänglich angesehene Bevölkerungsmigration zu beschleunigen. Historisches Vorbild dafür wären die großen Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg, als unter alliierter Ägide Polen nach Westen verschoben und zugleich ethnisch von den Deutschen "gesäubert" wurde.

Nachkriegs-Serbien einbinden

Denkt man dieses interventionistische, langfristige Strategem weiter, erscheinen die Vertreibungen und die massiven Schäden an der Infrastruktur als an sich auch gute Voraussetzungen, um das Gebiet nach Kriegsschluß in das westliche System einzubinden. Die mittlerweile weiträumige zerstörte Infrastruktur Serbiens kann mit Sicherheit vom bankrotten Rußland nicht aufgebaut werden. Deshalb hat das Land in der Folge, mit oder ohne Milosevic, nur die Alternative, ein Agrarland zu werden oder den bisher abgelehnten Wechsel ins westliche System zu vollziehen.

Wenn die Prüfung des Einsatzes der Nato diese Ebenen als gegenüber der moralischen Ambition als eindeutig zweitrangig ausweist, dann läßt sich festhalten, daß er seitens der Verantwortlichen tatsächlich moralisch gerechtfertigt war. Für das geschichtliche Urteil insgesamt bedeutete jedoch selbst dies noch wenig. Hier werden erstens die Entwicklung der internationalen Beziehungen insbesondere zu Rußland und China entscheidend sein und zweitens auch die Folgen für den internationalen Rechtsrahmen der UNO: Er wurde in der Nachkriegszeit zur Durchsetzung rechtlich begründeter, multilateraler Politik aufgrund eines vereinbarten menschenrechtlichen Konsenses geschaffen. Die Frage ist, ob die Entwicklung in diesem Sinne jetzt gestärkt oder geschwächt wird.

Klarheit in diesen Fragen ist insbesondere auch für diejenigen zentral, die aus philosophischer und ethischer Überlegung und Überzeugung die Moralität des Krieges verteidigen. Denn sollte ihre Entscheidung auf einer realpolitischen Täuschung beruhen, wäre ihre Stimme das stärkste - weil redlichste - Wasser auf den Mühlen der Kriegspropaganda.

Basler Zeitung, 24./25. April 1999, Nr. 95, S. 4

Foto: Ein strategisch wichtiges Ziel der NATO: zerstörte Haushaltswarenfabrik in Cacak, 150 km südlich von Belgrad

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008