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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Was ist dran an Afghanistan

Was ist dran an Afghanistan ?

Der nachfolgende Beitrag von "Salon Rouge" stammt
aus dem Monat September 2001 und wurde vor
Beginn der Militärschläge gegen Afghanistan
geschrieben. Der Beitrag stellt die möglichen
geostrategischen Interessen des Westens dar, die
eine Bombardierung dieses Landes noch verlockender
machen können.

Sven B., "Salon Rouge" Hamburg - Was könnte den derzeit
mächtigsten Staat der Welt, die USA, dazu veranlassen, ein
Land mit Krieg zu überziehen, das zu den fünf
ärmsten der Welt zählt, in dem seit mehr als 22 Jahren
Bürgerkrieg herrscht, das eine Analphabetenrate von
90% hat und in dem beinahe die Hälfte seiner 14 Millionen
Einwohner auf der Flucht sind? Unterstellen wir
einmal, dass es nicht um die Tötung eines einzelnen
Mannes geht, so bleiben gleich eine ganze Reihe möglicher
Gründe - auch innenpolitische und ideologische
-, wie es übrigens auch eine ganze Reihe von Gründen
gibt, diesen Krieg nicht zu führen. Schon am 26. Februar 1999
hat der damalige US-Präsident Bill Clinton erklärt, der Krieg
gegen Jugoslawien sei "kein Einzelfall", sondern der Beginn
eines ehrgeizigen geostrategischen Projekts. Sehen wir uns
also einmal an, welche geopolitischen und wirtschaftsstrategischen Interessen
in Afghanistan und den angrenzenden Staaten zusammenlaufen.

Afghanistan, um es Vorwegzuschicken, kommt aufgrund seiner
geografischen Lage eine besondere Bedeutung zu: Es bietet -
wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen - einen von
russischer und iranischer Kontrolle unabhängigen Landweg für
den Abtransport kaukasischer Rohstoffe, vor allem Erdöl und
Erdgas. Von gleicher zentraler Bedeutung ist das Land
im Bezug auf zentralasiatische Handelswege, dies
umso mehr, als die kaukasischen GUS-Staaten als
prosperierender Wirtschaftsraum der Zukunft gelten. Überhaupt
ist die Region Zentralasien und der Südkaukasus
seit dem Zerfall der Sowjetunion eines der für die
Industriestaaten und Russland interessantesten Gebiete der
Welt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Rohstoffe, die
in dieser Region in großer Fülle zu finden sind.
Kasachstan beispielsweise, wusste die "FAZ" am 24. November
1997 zu berichten, zählt zu den wichtigsten
Bergbauländern der Welt. ... Von den 112 Elementen
des chemischen Periodensystems kommen mehr als
zwei Drittel in Kasachstan vor.

Die größten Begehrlichkeiten weckt aber ein anderer
Umstand: Die Region verfügt über eines der weltweit
größten, zum Teil noch unerschlossenen Reservoirs an
Rohöl und -gas. Nach Schätzungen des Weltenergierats
wird der weltweite Energiebedarf bis zum Jahr 2020 um
50 Prozent ansteigen. Da nimmt es nicht Wunder, dass
die gigantischen Reserven, die in den kaukasischen
und zentralasiatischen Ländern vermutet werden, das
Interesse der Industriestaaten und der großen Konzerne
finden. In Kasachstan etwa findet sich das größte
Erdölfeld, in Turkmenistan die vermutlich dritt- oder
viertgrößten Erdgasreserven der Welt.

Der Leiter des Planungsstabs im deutschen Auswärtigen Amt,
Achim Schmillen, kommentiert in diesem Zusammenhang: "Der
Ressourcenreichtum, vor allem an Erdöl und Erdgas, macht das Gebiet besonders attraktiv für ausländische Investoren ... Auch wenn manche
Schätzungen überzogen sein dürften, haben die Industrieländer
großes Interesse an der Region ... [Die Rohstoffe] auf den
europäischen Markt zu bringen, hängt
an drei Faktoren: am Transport, der damit verbundenen
Beteiligung der großen Mächte und der potenziellen
Instabilität der Gegend".

An dieser Stelle kommt Afghanistan, das selbst keine
nennenswerten Bodenschätze besitzt, ins Spiel. Die USA
und Westeuropa sind nicht zuletzt deshalb so interessiert an
den Energievorkommen der transkaukasischen
und zentralasiatischen Staaten, weil sie ihre Abhängigkeit
von der Opec vermindern wollen. Zugleich haben
Kasachstan, Aserbaidschan und Turkmenistan zwar
leicht zu fördernde Energievorkommen, sind aber geografisch
von den Weltmärkten isoliert. Bislang können
sie ihr Öl und Gas nur durch das bestehende Pipelinesystem
über russisches Territorium transportieren.

Um an die Energieträger heranzukommen, ohne
von Russland abhängig zu sein, haben sich die USA,
China und europäische Konzerne darangemacht, eigene Pipelines
zu errichten. Für den Transport nach Europa konkurrieren die
Regionalmächte Türkei und Iran um die Kontrolle über die Haupttransportrouten für kaspisches Öl und Gas. Die USA wollen den NATO-Partner
Türkei zum Kontrolleur über den Energiefluss auf europäische
Märkte machen; europäische Energiekonzerne
argumentieren dagegen, dass der Transport über den
Iran um 10-12 Mal billiger sei. Der Iran hat angeboten,
aserbajdschanisches Öl in seine nördliche Raffinerien
zu leiten und im Austausch sein im Süden des Landes
gefördertes Öl direkt auf Tanker am Persischen Golf
Richtung Westen zu verschiffen. Dies wiederum wollen
die USA verhindern, um einen Aufstieg ihres Feindes
Iran zur dominierenden Macht der Region zu verhindern.
Stattdessen favorisieren die Vereinigten Staaten
neben der Türkeiroute eine zweite über Afghanistan
nach Pakistan. Sowohl in Pakistan als auch in Indien
wird der Energiebedarf in den kommenden Jahrzehnten deutlich
ansteigen, sodass die kaspischen Ressourcen auch für diese
Länder von strategischem Interesse sind.

Umgekehrt ist beispielsweise Turkmenistan (also
das Land, das über die zweitgrößten Reserven an fossilen
Energieressourcen der Welt verfügt) seit Anfang der
90er Jahre an der Erschließung neuer Transportwege
interessiert, um von Russland, das bislang die Kontrolle
über die Pipelines besitzt, unabhängig zu werden. Das
Vorhaben Turkmenistans, sich an das Pipelinesystem
des Iran anzuschließen, rief die USA auf den Plan. Entsprechend ihrer Doktrin, den Iran zu isolieren, übten sie wirkungsvoll Druck auf
Turkmenistan aus, die "iranische Variante" zu verwerfen. Die amerikanische Alternative lautete dagegen, Pipelines durch West- und Südafghanistan zum
pakistanischen Hafen Gwadar zu bauen. Dieses Pipelineprojekt ist seit langem
in konkreter Vorbereitung: Anfang der 90er Jahre hat der US-Konzern Unocal mit Saudi Arabiens Delta Oil vereinbart, eine Erdgas-Pipeline
von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan und Indien
zu führen. Geplant wurde auch eine Öl-Pipeline auf derselben Route,
die die Ölreserven in Kasachstan und möglicherweise sogar Westsibirien zugänglich machen soll. Im September 1996 gab es ein erstes Abkommen mit den
afghanischen Kriegsparteien, das die Sicherheit der
Pipelinetrasse betraf, im Januar 1998 unterzeichnete das
Talibanregime eine Übereinkunft, die
den Bau der Erdgasleitung möglich machen sollte. Die
Bauarbeiten hatten kaum begonnen, da zog der russische
Konzern Gazprom im Juni desselben Jahres seine
zehnprozentige Beteiligung an dem Unternehmen zurück. Am 21.
August, einen Tag nach den US-Cruise-Missile-Angriffen auf
vermeintliche Unterkünfte Bin Ladens, erklärte Unocal, das
Pipeline-Projekt so lange aufzuschieben, bis Afghanistan eine Regierung hätte,
die sowohl von den USA als auch von der UNO anerkannt würde.

Lange Zeit hatten die USA eine vorsichtig positive
Haltung gegenüber den Taliban, die von Amerikas damals
engstem Verbündeten in der Region, Pakistan, organisiert,
finanziert und ausgebildet wurden. Das Ziel
der pakistanischen Außenpolitik (wie im Übrigen auch
der iranischen) war, über eine indirekte Herrschaft in
Afghanistan zur regionalen Großmacht und zum bevorzugten
Wirtschaftspartner der GUS-Staaten aufzusteigen - darunter
auch die schon genannten mittelasiatischen GUS-Staaten
(Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und
Kasachstan).

Pakistan, und damit indirekt auch die USA, versuchte sich im
afghanischen Bürgerkrieg die ethnische Ausrichtung des
Konflikts zunutze zu machen und unterstützte mit den Taliban
diejenige ethnische Gruppe, die früher traditionell die Herrschaft über Afghanistan innehatte. Die Gelder für den Aufbau der Taliban, den der
pakistanische Geheimdienst organisierte, kamen übrigens aus
Saudi-Arabien. Das Verhältnis zu den Taliban kühlte sich vonseiten der USA aber etwa 1996/97 ab - wegen Bin Ladens damaligem Anschlag auf das World
Trade Center und wohl auch, weil zu diesem Zeitpunkt
deutlich wurde, dass die Taliban den Anforderungen an
eine afghanische Regierung nicht genügen würden,
nämlich: ein in der krisengeschüttelten Region politisch
stabiles Regime zu errichten, das die Transitroute
von Turkenistan nach Pakistan sichern würde.

Im Gegenteil: Die Taliban sind zu einem Unsicherheitsfaktor
geworden, der die gesamte Region destabilisieren könnte - und
das in zweierlei Hinsicht. Zum einen "exportieren" sie ihre
Ideologie in die Nachbarstaaten, also nach Pakistan, in die
ehemaligen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Usbekistan und
Tadschikistan, sowie in den angrenzenden Teil Chinas. Zum
anderen hat sich Afghanistan zu einem der weltgrößten
Produzenten von Opiaten, vor allem Heroin, entwickelt, mit
denen die Taliban sich finanzieren und die sie
selbstverständlich über ihre Nachbarstaaten ausführen. Was
den Export der Ideologie betrifft, so unterstützen die
Taliban aufständische islamistische Gruppierungen, die es in
den eher instabilen GUS-Staaten des
Südkaukasus und im westlichen Teil Chinas gibt. Die
Stabilität der Region ist aber, wie dargestellt, für alle
großen Mächte von entscheidender Bedeutung.

So überrascht es nicht, dass die USA seit Jahren an einer
"transatlantisch-kaukasischen Sicherheitspartnerschaft"
stricken und sich die NATO schon länger in der
Gegend aufhält. So beteiligen sich die USA im Rahmen
der NATO an militärischen Hilfsprogrammen für einige
Nachbarstaaten Afghanistans, obwohl diese offiziell
immer noch der von Russland dominierten GUS angehören. 1999
berichtete der US-amerikanische Radiosender Radio Free Europe
über den Besuch einer Delegation des US-Außenministeriums in
der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Dort wurden Sicherheitsabkommen
unterzeichnet - eines über die "Bekämpfung des
Terrorismus", und ein zweites über die Zusammenarbeit
zwischen dem Pentagon und dem usbekischen
Verteidigungsministerium. Im Rahmen des NATO-Programms
"Partnerschaft für den Frieden" nehmen US-Soldaten seit vier
Jahren an Übungen in Zentralasien teil, und usbekische Truppen, Teil eines Zentralasiatischen Bataillons zur Friedenssicherung, fliegen zu weiteren
Ausbildungsmaßnahmen in die USA.

Um es abschließend noch einmal deutlich zu sagen:
Es sei dahingestellt, ob irgendwelche dieser eben
dargestellten Zusammenhänge der US-Regierung ausreichende
Gründe liefern, Afghanistan mit Krieg zu überziehen.
Eine stabile Regierung des vollkommen zerstörten
Vielvölkerstaats lässt sich nicht herbeibomben - und das
wissen auch die Entscheidungsträger in Washington. Umgekehrt birgt
ein Krieg gegen Afghanistan ein hohes Risiko
der Eskalation, die sich in die Region hinein erstrecken
könnte - nicht zuletzt wegen der hohen Sympathien, die
die Taliban in großen Teilen der pakistanischen Bevölkerung
und des dortigen Staatsapparats haben.

Wollen wir hoffen, dass es nicht zum Krieg kommt. Wir
sollten alles, was in unserer Macht steht, tun, um ihn zu
verhindern.

Ein Artikel des Salon Rouge (www.salonrouge.de) vom
September 2001, vor Beginn der Militärschläge

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 20. Mai 2007