Die Tücken des Altpapiers
Umweltfreundliches Recycling hat auch seine
Schattenseiten. Die Kollegen in der Papierindustrie bekommen es zu spüren in
Form von Schwermetallen und anderen Schadstoffen.
Von Heinz Eßlinger - Recycling
heißt das Zauberwort. Gemeint ist damit die Wiederverwendung bereits benutzter
Rohstoffe. Immer häufiger wird davon Gebrauch gemacht, um knappe und teure
Rohstoffe zu sparen und gleichzeitig die Müllberge zu verringern. Nicht zuletzt
auch in der Papierindustrie.
Über acht Millionen Tonnen Papier werden jährlich in der
Bundesrepublik erzeugt. Dazu werden etwa 3,5 Millionen Tonnen Altpapier
verwendet. Dieser Anteil von rund 43 Prozent ist kaum noch steigerungsfähig.
Nicht nur das graue Umweltschutzpapier wird aus Altpapier hergestellt, sondern
fast alle Verpackungspapiere. Aber auch in weißen Zeitungs- und Schreibpapieren
sind häufig erhebliche Anteile an Altpapier enthalten, das vorher in einem „Deinkin-Verfahren"
von Druckfarben befreit wurde.
Doch diese rohstoffsparende Entwicklung hat auch
Schattenseiten. Zum Beispiel für die Beschäftigten in der papiererzeugenden
Industrie. Darüber unterhielten sich auf einer Fachtagung über
Altpapieraufbereitung Betriebsräte aus betroffenen Unternehmen mit Vertretern
der IG Chemie-Papier-Keramik, der Papiermacher-Berufsgenossenschaft und
sachkundige Wissenschaftler. Die Tagung Ende Oktober in Malsch bei Karlsruhe
wurde von der Projektgruppe "Stoffe und Gesundheit" der IG Chemie
veranstaltet und sollte Wege aufzeigen, wie Gesundheits- und Umweltgefährdungen
in diesem Bereich verhindert werden können.
Der letzte Dreck
"Wir verarbeiten den letzten Dreck an Altpapier, bis zu
35 Prozent davon ist unbrauchbar, nicht auszudenken, was da an Krankheitskeimen
drinsteckt", schimpfte ein Betriebsrat. Aber das ist nur einer von vielen
Gesichtspunkten. Viel problematischer wirkt sich die Tatsache aus, daß immer
mehr Papierfabriken aus Ersparnis und Umweltschutzgründen dazu übergehen, mit
einem geschlossenen Wasserkreislauf zu arbeiten, also das
Wasser stets von neuem verwenden; in manchen Fabriken gibt es fast kein Abwasser
mehr. Das bedeute aber, daß sich die Schmutz- und Schadstoffe in diesem Wasser
immer mehr anhäufen und auch ins neu produzierte Papier übergehen. Zudem
werden die Papierfasern immer kürzer, je öfter sie durch ständig wiederholten
Altpapiereinsatz den Produktionsprozeß durchlaufen. Die Tendenz geht dahin, die
dadurch entstehenden Probleme durch Zusatz von immer mehr und immer neuen
Chemikalien zu bekämpfen.
Altpapier ersetzt die herkömmlichen
Rohstoffe bei der Papierherstellung fast schon zur Hälfte. Aber da ist auch
viel „Mist" dabei, mit dem sich die Papierarbeiter herumzuschlagen haben.
"Manche Kollegen haben Hauterkrankungen, aber kein Arzt
kann sagen, woher sie kommen", klagte ein Betriebsrat. Denn bei der
Papierherstellung werden Dutzende von
Schleimbekämpfungsmittel, Flotationsmittel, Enthärtungsmittel, Färbungs-,
Entschäumungs-, Leimungs- und Streichmittel eingesetzt. Gerade das
Zusammenwirken der verschiedensten Chemikalien beunruhigt viele Kollegen im
Betrieb, denn es ist – wie in Malsch übereinstimmend bedauert wurde – noch
viel zu wenig erforscht. "Hier geht es nicht um einige wenige
Stoffgemische, sondern in der Papierindustrie geht es um die ganze Brühe",
sagte Gerd Albracht, Umweltschutzexperte beim IG-Chemie-Hauptvorstand.
Aber es geht noch um etwas anderes: Da Druckfarben teilweise
Cadmium, Chrom und Blei enthalten, fallen diese Schwermetalle beim Ausschäumen
der Farbe aus dem Altpapier in den ,.Deinking-Anlagen" in konzentrierter
Form an. Sie landen im Klärschlamm, dessen Beseitigung
damit zu einem neuen Problem wird.
"Wir brauchen Informationen über die bei uns verwendeten
Stoffe. Auf jeder Zigarettenschachtel sind die Schadstoffe angegeben, nicht aber
auf den Verpackungen jener Stoffe, mit denen wir umgehen müssen. Die
vorgeschriebenen Sicherheits-Datenblätter bleiben oft bei der Einkaufsabteilung
in der Schublade liegen." So lauteten einige der Klagen aus Betrieben. Von
den Vertretern der IG Chemie und der Berufsgenossenschaft wurde klargestellt:
Die Betriebsräte haben ein Recht auf diese Informationen. Sie müssen ihnen
zugänglich gemacht werden. Dieses Recht müsse man "knallhart
durchsetzen". Auch wurde immer wieder auf die Notwendigkeit der
vorgeschriebenen Unterweisungen der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz über mögliche
Gefährdungen hingewiesen. Denn ein Teil der bei der Altpapieraufbereitung und
Papierherstellung verwendeten Mittel ist ganz eindeutig gesundheitsschädlich.
Darüber gibt es keinen Zweifel. Deshalb komme es darauf
an im Zweifelsfall das am wenigsten giftige Mittel zu nehmen, forderte Gerd
Albracht. So ist es auch gelungen, auf Grund einer von der IG Chemie
ausgelösten und von der Papiermacher-Berufsgenossenschaft durchgeführten
Aktion das hochgefährliche Pentachlorphenol aus den Papierbetrieben zu
verbannen.
Für die Mitarbeiter des Humanisierungsprojekts "Stoffe
und Gesundheit" gab die Tagung wertvolle Hinweise, welche Informationen die
Betriebsräte, vor allem auch in Klein- und Mittelbetrieben, benötigen, um mit
den von gefährlichen Arbeitsstoffen ausgehenden Problemen besser fertig zu
werden.
Mehr Informationen
Das gilt nicht nur für die Papierindustrie, sondern auch für
die feinkeramische und die Glasindustrie, wo Gefährdungen durch Arbeitsstoffe
ebenfalls an der Tagesordnung sind. Deshalb fanden in den vergangenen Wochen
ähnliche Fachtagungen auch für Betriebsräte aus diesen beiden
Industriezweigen statt, um den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu verbessern.
Aus: Gewerkschaftspost 12/1984
Nochmals: Die Tücken des Altpapiers
Oder: Wie sich ein "gp"- Bericht Schritt für
Schritt in eine Gruselstory verwandelte.
Es war einmal eine gewerkschaftliche Fachtagung, da trafen
sich Betriebsräte aus der Papierindustrie, in deren Betrieben Altpapier
verarbeitet wird, mit Gewerkschaftsvertretern, Wissenschaftlern und
Arbeitsschutzexperten, um über die bei der Altpapierverarbeitung auftretenden
Probleme zu beraten. Denn im Laufe der Jahre hatte sich herausgestellt, daß das
umweltfreundliche Recycling auch seine Schattenseiten hat und gewisse Gefahren
für die Beschäftigten in der Papierindustrie mit sich birgt. Die
Gewerkschaftszeitung berichtete über diese Tagung. Sie zitierte die Klagen der
Betriebsräte und schrieb über die Ausführungen der Experten. Dabei ging es
vor allem um Gefährdungen durch Schadstoffe, die bei der Aufbereitung von
Altpapier entstehen können, und wie man die Papierarbeiter davor schützen
kann. Mit keinem Wort war davon die Rede, daß aus Altpapier hergestelltes
Papier schädlich oder gefährlich sei. Denn dafür gibt es keine Anhaltspunkte.
Eine angesehene Nachrichtenagentur griff diesen Bericht auf
und verarbeitete ihn zu einer eigenen Story. Sie zitierte dabei ausführlich,
was in der Gewerkschaftszeitung stand, nahm dabei jedoch eine Akzentverschiebung
vor: Eine Frage, die im Tagungsbericht ausdrücklich als "nur einer von
vielen Gesichtspunkten" bezeichnet worden war, wurde zum Hauptproblem
hochstilisiert und an den Anfang des Agenturberichts
gestellt, nämlich die Aussage eines Betriebsrats über den hohen Prozentsatz
unbrauchbaren Altpapiers und damit im Zusammenhang seine Vermutung, da könnten
Krankheitskeime drinstecken.
Der Bericht der Nachrichtenagentur wurde von vielen Zeitungen
nachgedruckt, doch meist in gekürzter Form. Da aber Zeitungsredakteure bei zu
langen Berichten in der Regel hinten streichen, bekam das am Anfang stehende
"unbrauchbare Altpapier" mit den Krankheitskeimen ein noch größeres
Gewicht. Und weil die Überschrift der Agenturmeldung "Gesundheitsgefahren
bei Herstellung von Umweltpapier" für schmale Zeitungsspalten zu lang war,
wurde sie gekürzt und lautete dann beispielsweise in einer auflagenstarken
Boulevardzeitung "Umweltpapier – Gefahr für die Gesundheit!" Die
"Herstellung" war weggefallen, der Verdacht richtete sich nun gegen
das Papier selbst. Auch war mit keinem Wort mehr von den gewerkschaftlichen
Bemühungen zur Abwendung der Gefahren die Rede.
Die größte deutsche Rundfunkanstalt griff das Thema in einer
Verbrauchersendung auf. Dabei kürzte sie den 60 Zeilen langen Agenturbericht
auf zehn Zeilen zusammen, und versuchte, in diese Kurzmeldung möglichst alle
negativen Aussagen reinzupacken. In einem anschließenden flapsigen Kommentar
brachte der Moderator dann das "mit Krankheitskeimen verseuchte
Altpapier" direkt mit dem staatlich geförderten Umweltpapier in Verbindung
und meinte, daß da "ja wohl eine schnelle Klärung angebracht" sei.
Einer der Manager eines Lebensmittelfilialunternehmens hörte
diesen Rundfunkbericht so, wie viele Leute Radio hören: zwischen Suppe und
Kaffe mit einem Ohr. Er schnappte einige Reizworte auf wie „Altpapier",
„Krankheitskeime", "Umweltpapier" und folgerte messerscharf. Da
bei der Herstellung des von seiner Firma verkauften Toilettenpapiers ebenfalls
Altpapier verwendet wird, muß dieses ja wohl auch mit Krankheitskeimen
verseucht sein. Sofort setzte er sich mit seinem Papierlieferanten in
Verbindung. Das ist ja unerhört, was da eben im Radio gemeldet wurde. Die IG
Chemie, behauptet, daß im Hygienepapier, Krankheitskeime seien. Ja, wenn das so
ist, kann ich wohl meiner umwelt- und gesundheitsbewußten Kundschaft künftig
ihr Toilettenpapier nicht mehr anbieten. Der Papierfabrikant griff zum
Telefonhörer und wandte sich händeringend an die IG Chemie. Was haben Sie da
nur für eine Alarmmeldung in die Welt gesetzt? Unser Toilettenpapier soll
gefährlich sein, das ist völlig unmöglich! Die Kunden drohen schon
abzuspringen, die Arbeitsplätze sind gefährdet.
Diese Geschichte ist nicht erfunden. Sie schildert, wie sich
der Artikel "Die Tücken des Altpapiers" in der letzten Ausgabe der
"gp" durch Verkürzungen, Verdrehungen und Fehlinterpretationen
Schritt für Schritt in eine Horrorstory verwandelt hat. Es ist ein klassisches
Beispiel dafür, wie aus einem fachlichen und sachlichen Bericht durch
klammheimliche Veränderungen innerhalb kurzer Zeit ein schlimmes Gerücht
werden kann.
Übrigens: Natürlich ist Umweltpapier nicht schädlich.
Selbstverständlich können auch gesundheitsbewußte Verbraucher nach wie vor
ihren Allerwertesten mit Toilettenpapier abwischen, das aus Altpapier
hergestellt wurde Es enthält keine Krankheitskeime. Zumindest nicht vor dem
Gebrauch.
H.E.
Aus: Gewerkschaftspost 1/1985