TRANSIDENTITÄT
Perspektiven des »Dritten Geschlechts«
Marmorfigur eines schlafenden Hermaphroditen
im Pariser Louvre
»Raus aus dem Zwei-Geschlechter-Gefängnis!«
ruft die community der Transidenten der Gesellschaft zu. Die Transfrau Madeleine
schildert im CONTRASTE-Schwerpunkt nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen im
Umgang mit dem »Dritten Geschlecht«, d.h. der Identifikation mit einem anderen
als dem körperlich angeborenen Geschlecht, sondern beschreibt das Phänomen in
seiner gesellschaftlichen Dimension inklusive seines gesellschaftsverändernden
Potentials und dem Umgang damit in alternativen Gemeinschaften.
von Ariane Dettloff, Redaktion Köln # Den
früher üblichen Begriff »Transsexualität« kritisiert sie als verfehlt und
verwirft ihn als nicht nur diskriminierend, sondern auch falsch. Denn es geht
nicht um eine sexuelle Orientierung, sondern um eine vom Mainstream abweichende
Identität: Männer, die sich als Frauen empfinden, und Frauen, die lieber dem
männlichen Geschlecht angehören wollen. Dabei haben es Transmänner deutlich
leichter als Transfrauen, im »normalen« Leben klarzukommen. Sie können nicht
wie ein Schmetterlings- Buntbarsch kurzerhand hormonell und körperlich in ihr
Wunschgeschlecht hineinschlüpfen. Auch nicht der im Westerwälder Volksmund
gebräuchlichen Empfehlung folgen, einfach unter dem Regenbogen durchzugehen,
weil dies der Legende nach das Geschlecht verwandelt.
Männlich oder weiblich? Das ist immerzu die Frage – schon bei der
Menschen-Geburt. Aber was ist das eigentlich, das Geschlecht? Bestimmen es die
Chromosomen? Die inneren, die äußeren Geschlechtsmerkmale? Die Hormone? Das
Empfinden? Kultur und Gesellschaft? Braucht man die Zweiteilung überhaupt?
Trägt nicht jede/r beide Komponenten in sich in je eigener Mixtur?
»Alles wirkt falsch«, erklärt Madeleine ihr transidentisches Empfinden:
»Wenn du sprichst, ist es eine falsche Stimme, die nicht zu dir passen will.
Wenn du in den Spiegel schaust, siehst du eine fremde Person. Im Grund können
Transidente keine Fehler begehen, da sich ihr Leben doch von Anbeginn als ein
einziger Fehler herausstellt. Der Körper wird zum Gefängnis. Die Seele lebt
ein Leben im Exil. Körper, Geist und Seele finden nicht zueinander, können
keine harmonische Ganzheit entwickeln. Die Folge: Dauerstress. Anhaltende, kaum
therapierbare Depressionen und massenhaft psychosomatische Beschwerden. Der
Wunsch in den Körper des Wunschgeschlechtes zu schlüpfen wird zur fixen Idee.
Alles dreht sich nur noch um diesen Gedanken.
Für viele beginnt eine Odyssee durch Behörden und Institutionen. Juristen,
Psychologen, Ärzte verschiedener Fachrichtungen geben sich die Klinke in die
Hand im Leben vieler Transidenten. Kaum eine andere soziale Gruppe lebt heute
noch so fremdbestimmt. Die klassische Methode der aufwendigen Hormontherapie
plus Um-Operation, dem bürgerlich-patriarchalen Denken verpflichtet, geht
unhinterfragt vom Zwei-Geschlechter- Modell aus, innerhalb dessen die
Transidenten eine krankhafte Abweichung darstellen, welche über die
körperliche Angleichung an das gefühlte und gelebte Geschlecht (gender)
behoben werden muss. Das Recht auf eine eigenständige Identität wird den
Transidenten abgesprochen.« Die Folgen reichen von Sensationalisierung durch
die Boulevardpresse über Diskriminierung im Alltag und qua Gesetz bis zu
Tätlichkeiten, die wie im Fall der türkischen Transidenten Erbu Soykan sogar
tödlich enden können.
Dabei ist die Urform des Menschenwesens in vielen Schöpfungsmythen androgyn,
also männlich- weiblich beschrieben. Das erste Menschenpaar der persischen Sage
lebte im Garten Eden gemeinsam in einem Körper. Laut griechischem Mythos formte
Prometheus den Menschen androgyn aus Lehm – erst Zeus trennte die
ursprünglichen Kugelmenschen und entnahm dem weiblichen Körper ein Stück
Lehm, das er dem Mann ansetzte. So erhielten Frauen eine blutende Öffnung und
Männer einen Auswuchs.
In der bildenden Kunst sind geschlechts-uneindeutige Personen immer wieder
Sujet gewesen – bei Leonardo da Vinci etwa »Johannes der Täufer« und bei
Marcel Duchamp dessen Mona Lisa mit Schnurrbart.
Theoretisch geriet die Zweigeschlechtlichkeit ins Wanken, als u.a. Magnus
Hirschfeld, Michel Foucault und Judith Butler sie dekonstruierten. Insbesondere
die neuere Wissenschaftsrichtung der »Queer Theory« geht davon aus, dass
Menschen sich selbst definieren sollen und diese Selbstdefinition die einzig
gültige »Identitätserklärung « ist. Viele Ärzte hingegen sprechen von
einer »Störung der Geschlechtsentwicklung«, die – zuweilen immer noch
brachial – medizinisch zu behandeln ist.
Unser CONTRASTE-Schwerpunkt lädt Leserinnen und Leser ein, die
»Geschlechterfrage« im Licht der Transidentität zu überdenken.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10