JENSEITS DER BANANENREPUBLIK
»Ossis« und »Wessis« in Projekten
Foto: Frederik Ramm, Umbruch Bildarchiv Berlin
Immer wieder mal beleuchtet CONTRASTE den
Alltag selbstorganisierter Projekte unter verschiedenen einzelnen Aspekten.
Diesmal also unterschiedliche Sozialisation in Ost- und Westdeutschland und
deren Nachklänge achtzehn Jahre nach dem Anschluss.
von Ariane Dettloff, Redaktion Köln # Es ist
unbeabsichtigt ein etwas »Ossi«-lastiger Schwerpunkt geworden, was zum einen
daran liegt, dass ich diverse Absagen angedachter »Wessi«-AutorInnen erhielt.
Denkbar ist auch, dass die Anfragen bei den nicht minder ausgelasteten »Ossis«
auf offenere Ohren trafen, weil das Thema sie eventuell stärker interessiert.
Weil sie, glaubt man der Literatur zum Thema – so wie ich sie ausschnittsweise
wahrgenommen habe (es soll über 6.000 Titel geben) –, die generell
»Untergebutterten« sind?
Was ja wiederum in »unseren« Zusammenhängen wohl nicht der Fall sein
dürfte. Oder hat der Soziologe Wolfgang Engler recht (selbst aus dem Osten
stammend), der die Ostdeutschen als mögliche Avantgarde ausgemacht hat, als
Pioniere eines neuen Gesellschaftsvertrags jenseits der kapitalistischen
Arbeitsgesellschaft mit ihrem verheerenden Wachstumszwang? Ich selbst habe bei
der Lektüre entdeckt, dass ich entsprechend verschiedenen Kriterien, die da
aufgeführt werden, eher eine »Ossi« bin: konsummuffelig und
gemeinschaftsliebend. Ich fand noch weitere »westliche Ossis« in den
Sachbüchern zum Thema beschrieben: »Ja, man konnte auch im Westen in vieler
Hinsicht Ossi sein. Meine Freundin zum Beispiel ist im Westen ohne Fernsehgerät
aufgewachsen. Ihre Mutter vertrat die Ansicht, Fernsehkonsum sei für Kinder
nicht gut. So hat ihre Tochter nie den Grundvorrat an Fernsehbildung genossen,
der für den größten Teil von uns obligatorisch war und außerdem die
Teilnahme am Schulhof- Smalltalk erleichterte beziehungsweise erst ermöglichte
«, schreibt »Wessi«-Autor Ralf Schlüter, Jahrgang 1968. »Meine Freundin hat
also im Tal der Ahnungslosen gewohnt. Dafür kennt sie sich sehr gut in der
griechischen Mythologie aus.« Über sich selbst, gleichfalls »Ossi im
Westen«, berichtet Schlüter, er habe »die zu dieser Zeit sich ausbreitende
Levi’s- 501-Tragepflicht nicht nur nicht mitgemacht, sondern noch nicht einmal
bemerkt.«
In alternativen Projekten sind nach meiner Erfahrung etliche »West-Ossis«
unterwegs. Ob es darum weniger Differenzen gibt mit den »echten«? Wie sehen
die diesseits und jenseits der Mauer Sozialisierten in selbstorganisierten
Zusammenhängen das Verhältnis heute, fast zwanzig Jahre nach dem Fall
derselben? Ein paar Streiflichter konnte ich einsammeln. Klar ist kein Mensch
durch seine Herkunft definiert, natürlich gibt es außer dieser noch eine
große Zahl anderer Einflüsse – Schichtzugehörigkeit und Alter und Bildung
und Beruf und und und ... Aber mitprägend, das zeigen die Gedanken und Berichte
unserer AutorInnen, ist die Herkunft schon. Und sorgt weiterhin für manche
Irritationen auch bei KommunardInnen oder Alternativ-AktvistInnen. Es sind
allerdings oft – aber nicht durchweg – andere als die in der Literatur
beschriebenen.
So ging es den östlich sozialisierten CONTRASTE-AutorInnen mit Sicherheit
nicht »darum, den Westen zu erforschen, den Westen zu kopieren. Sich
gleichzumachen, sich zu verkleiden. Den Dialekt zu verlernen, den richtigen Stil
zu erlernen, den richtigen Lebensweg «, wie FAZ-Autor Volker Weidermann in
seiner Rezension des erstaunlich erfolgreichen Buchs über die »Zonenkinder«
von Jana Hensel konstatierte. Sie aktivierten sich, um beizutragen,
Handlungsräume jenseits von Markt und Staat zu erschließen. Welche Erfahrungen
sie dabei mit westlich sozialisierten SystemkritikerInnen machten und vice versa
(und umgekehrt), das will der Schwerpunkt vermitteln. Eingestreut sind Zitate
aus Publikationen, die sich allgemein gesellschaftlich mit unterschiedlichen
Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von »Ossis« und »Wessis«
befassen. Sie haben keinen direkten Bezug zu den CONTRASTE-Beiträgen, regen
aber dazu an, sie mit den dort geäußerten Positionen zu vergleichen. Auf
Widerspruch oder Zustimmung unserer LeserInnen aus eigenen Erfahrungen heraus
sind wir gespannt!
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10
SCHWERPUNKTTHEMA
Interview mit Anke Moka: »Lass den anderen anders sein«
Interkulturelle Differenzen: Streit um die Streitkultur Seite
7
Im Osten nichts Neues – Bericht eines Westdeutschen aus einer Gemeinschaft
im Osten Seite 8
Kommt ins Offene... Reflexionen einer Alternativ-Pionierin Seite
9
Ost-West-Konflikte? Von Ost-Spießern, West-Ignoranten und der Notwendigkeit,
das Nachdenken in Gang zu halten Seite 10