AUTOMOBILGESELLSCHAFT
Besser selbst bewegt als automobil
Angenommen wir bekämen Besuch von einem
anderen
Stern. Was würde der über eine "Zivilisation" denken,
deren Einwohner jahraus jahrein scheinbar ziellos und
wie irre hin und her über ihren Planeten rasen. Die sich
dabei so genannter fahrbarer Untersätze bedienen,
welche in Wirklichkeit viel eher hochmobilen
Waffensystemen gleichen, mit denen sie ihre eigenen
Städte und Wohngebiete vergiften, ihre Landschaften
zerstören, sich gegenseitig mit Lärm terrorisieren,
reihenweise gegenseitig nerven, schwer verletzen, zu
Krüppeln machen, ja sich gegenseitig in großer Zahl
umbringen.
Lothar Galow-Bergemann, Stuttgart - Die Besucher
würden bald herausfinden, dass die Erdlinge das alles nicht nur als vollkommen
unabänderlich hinnehmen, sondern sogar allen Ernstes darauf pochen, es habe
ganz viel mit "Lebensstandard" zu tun. Ja, dass diese sonderbaren
Geschöpfe allein bei dem Gedanken daran, dass die Produktionszahlen ihrer
Untersätze einmal zurückgehen könnten von panischer Angst ergriffen werden.
Weil sie nämlich zutiefst davon überzeugt sind, dass ihr Lebensunterhalt davon
abhängt. Die Besucher könnten nur zu dem Schluss kommen, auf einem vollkommen
verrückten Planeten gelandet zu sein.
So bekannt die brutalen Tatsachen sind, so hartnäckig werden sie tagtäglich
von Millionen verdrängt. Die Autogesellschaft hat in ihrer hundertjährigen
Geschichte Tote und Verstümmelte in der Größenordnung von Weltkriegen auf den
Straßen hinterlassen. Jede zweite Tankerkatastrophe geht zu Lasten der
Autoflotte, denn sie säuft die Hälfte des über die Weltmeere transportierten Öls.
Krieg für Öl ist jeden Tag. Landschaften und Siedlungen werden zerstört,
zubetoniert, geschändet. Ausgerechnet ein Ding, das man auto-mobil (also
selbst-bewegend) heißt, erzeugt massenweise Bewegungsmangel, Haltungsschäden,
Fettleibigkeit - und das oft schon in früher Jugend. Fortschreitende Vergiftung
der Atmosphäre, Lungenkrebs, Lärm-Terror (allein in Deutschland sterben jährlich
3.000 Menschen an den Folgen des Lärms, der wiederum zu 70% vom Autoverkehr
verursacht wird)... die Liste der Gräuel ließe sich leider noch lange
fortsetzen. Unbestritten ist: würde sich das Auto in dem Masse über den
Erdball verbreiten, wie das bereits heute in den so genannten entwickelten Ländern
der Fall ist, das weltweite Ökosystem bräche endgültig zusammen. Ein Blick
nicht nur auf China zeigt, dass wir auf dem Weg dahin sind.
Aber der Automobilis-Muss richtet nicht nur physische, sondern auch
psychische Zerstörungen an und diese sind vielleicht sogar die gefährlichsten.
Das Wort Automobil setzt sich bekanntlich aus dem griechischen autos (selbst,
selber, ich selber) und dem lateinischen mobilis (beweglich) zusammen. Die
Ideologie der Autogesellschaft behauptet nun: dieses Ding ist ein Mobil. Wie schön,
dass die Alltagssprache wenigstens manchmal so verräterisch ist - sie kommt
gleich auf den Punkt und nennt es offen und ehrlich: ein Auto. Es geht also
offenbar psychologisch viel weniger um das mobilis als um das autos.
Tausendfach spielt sich jeden Tag aufs Neue die folgende unglaubliche
Geschichte ab: "Wo stehst Du?" fragt ein Mensch einen anderen, obwohl
der direkt vor seiner Nase steht. Nach Lage der Dinge wäre es angebracht, dass
dieser ihm nun den Vogel zeigt und ihn seinerseits fragt, ob er keine Augen im
Kopf habe, denn er sehe doch schließlich, dass er hier vor ihm stehe. Tatsächlich
jedoch geht der solchermaßen Angesprochene ganz ernsthaft auf die Frage ein und
antwortet den haarsträubenden Satz: "Ich stehe da hinten links um die
Ecke, nach zwanzig Metern auf der rechten Seite."
Also: Ich bin mein Auto. Nicht: ich bin mein autos, bin mein selbst, bin
selbstbestimmt, bin bei mir - so wie es in einer nicht entfremdeten,
emanzipierten Gesellschaft der Fall wäre. Ich sehne mich zwar, unbewusst meist,
danach, mein autos zu sein - aber ich bin nur eine jämmerliche Karikatur
desselben, mein Auto eben.
Fortsetzung auf Seite 7
Kasten:
Dem Beobachter am Straßenrand bieten sich höchst anschauliche Bilder, die
einen tiefen Einblick in die Verfasstheit dieser Gesellschaft gewähren. Da
sitzen atomisierte Individuen, meistens alleine, eingepanzert in eine Tonne
Stahl und Kunststoff, getrennt voneinander und doch in ihrem Tun unlöslich
miteinander verbunden. Jeder kämpft gegen jeden. Schneller sein als der andere,
effektiver sein im Kampf um Spur und Parkplatz. Möglichst viel Zeit
herausschlagen, aber doch nie Zeit haben. Zur Unbeweglichkeit verdammt und in
engen Käfigen festgeschnallt, aber im festen Glauben, es handle es sich bei
dieser Veranstaltung ausgerechnet um - Bewegung. Permanent unter höchster
Anspannung getrimmt darauf, die Maschine am Laufen zu halten. Die kleinste
Unaufmerksamkeit gegenüber dem Diktat der herrschenden Verkehrsform kann buchstäblich
die Existenz kosten - sie kann schließlich jederzeit mit der Todesstrafe
geahndet werden. Sich selbst und andere ununterbrochen an Leib und Leben gefährdend.
Leidend an den Folgen des eigenen Tuns, aber im Gefängnis der Vorstellung vom
"Normalen" und angeblicher Alternativlosigkeit gefangen...
Schaut man sich den ganzen Jammer an, so gewinnt ein berühmtes Zitat ganz
neue und unmittelbare Überzeugungskraft: "Ihre eigne gesellschaftliche
Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren
Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren."
(Karl Marx, MEW 23, S.89)