Olaf Sund (früher Leiter
einer Heimvolkshochschule, Landtagsabgeordneter der SPD in Hannover, Senator
für Arbeit in Westberlin und heute Präsident des Landesarbeitsamtes NRW) hat
zwar keine ABM-Karriere hinter sich, weiß jedoch im Vergleich zu so manch
anderem Behördenvertreter etwas genauer Bescheid und vertritt Positionen, die
auf lokaler Ebene bei Verhandlungen mit der Arbeitsverwaltung durchaus bei der
Begründung für eine Stelle erwähnenswert sein könnten. Immerhin ist er einer
der ihren! Eigentlich hatten wir vor, eigene Interviews in den Bericht zu
bringen, doch fanden wir kein offenes Ohr (offenen Mund) in der
Arbeitsverwaltung. Darum erlauben wir uns ohne Rücksprache mit der
Arbeitsverwaltung in NRW, den Beitrag von Olaf Sund zu veröffentlichen. Wir
werden dies nachholen.
Von Olaf Sund, Präsident der
Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen
Politiker entdecken die Selbsthilfeprojekte als Träger einer
,,neuen Subsidiarität", andere sehen neue Formen genossenschaftlicher
Ansätze, Selbstbestimmungsideen, verlorengegangene oder unerfüllte Träume von
der Aufhebung der Entfremdung. Aber viel häufiger mutmaßen sie Verdächtiges,
Unkontrolliertes, Chaotisches. Dann ist die Folge Ablehnung und Unverständnis.
Andererseits ist man um neue Wege und Anregungen verlegen:
Wie soll eigentlich der Sozialstaat weiterentwickelt werden, wenn sich bloße
Fortschreibungen von einmal entwickelten Institutionen als nicht möglich und
auch als nicht ausreichend erweisen? Da muß zunächst ein Mißverständnis aus
der Diskussion: Selbsthilfe heißt nicht Selbstbeteiligung im Sinne von
individueller Kostenbeteiligung. Aber Selbsthilfe und Selbstverwaltung sind
immer Leitideen der Sozialstaatsvorstellungen gewesen. Wenn in der Sozialpolitik
die Krankheitskosten explodieren, wenn die Pflegesicherung nicht bezahlbar
erscheint, wenn die Großsysteme nicht nur teuer und unübersichtlich geworden
sind, sondern auch als inhuman empfunden werden, lohnt dann nicht der Versuch,
mit Selbsthilfeprojekten die Probleme besser zu meistern? Gibt es nicht eine
lange und gründliche Diskussion über neue und zeitgemäße Formen von
Selbstverwaltung, von Betroffenenbeteiligung, von Mitbestimmung in kleinen
Gruppen, die immer wieder steckengeblieben ist und die schier mutlos
weitergeführt wurde angesichts gleichsam naturwüchsiger Gigantonomie und
befestigter Sozialbürokratie? Hier werden nun tatsächlich neue Lebens - und
Arbeitsformen erprobt, allen Widerständen zum Trotz, im Angesicht zahlloser
Bedenklichkeiten. Und was ist, wenn man massenhafte Arbeitslosigkeit
registriert, bisher nicht gekannte Dauerarbeitslosigkeit, wenn es immer mehr
Menschen dämmert, dass Wachstum in Größenordnungen, in denen ein
zufriedenstellend hoher Beschäftigungsstand erreicht werden kann, nicht in
Aussicht steht? Wenn die Einsicht zunimmt, daß Wachstum in den alten Bahnen,
selbst wenn man es zuwege brächte, nicht mehr unkritisch angestrebt werden
darf, wenn die Natur dabei nicht vollends verdorben werden soll?
Wenn man jeden vertretbaren Weg gehen muß, um den
Arbeitsmarkt zu verbessern, können dann nicht Selbsthilfeprojekte Entlastung
bringen, neue Arbeitsmöglichkeiten schaffen, vielleicht sogar wichtige
Innovationen auslösen? Kann man dann nicht mit den knappen Mitteln der
Haushalte Projekte unterstützen, die vielleicht einen höheren
Entlastungseffekt bringen als herkömmliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen?
Den Frauen und Männern in den Selbsthilfeprojekten wird bei
soviel Interesse unheimlich. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen und sie wollen
sich weder instrumentalisieren noch verstümmeln und beschneiden lassen, damit
sie in ein öffentliches Förderungssystem passen, das sie quasi enteignet und
ihre Autonomie zerstört oder zumindest beschädigt. Die lange Diskussion um die
,,Staatsknete" hat das deutlich gemacht.
Natürlich ist es verständlich, wenn von Seiten der Projekte
deshalb Skepsis angemeldet wird. Bisherige Erfahrungen mit Versuchen zur
Instrumentalisierung und Vereinnahmung sprechen dafür. Aber es ist ebenso
verständlich, wenn Hilfen für Selbsthilfeprojekte mobilisiert werden sollen
und Hilfen von den Beteiligten mit guten Gründen gefordert werden, daß dann
über die Form der Hilfe, über Ziele, Verwendung und Wirksamkeit gesprochen
werden muß, daß Regelwerke aufgestellt werden müssen und keine übertriebenen
Berührungsängste an den Tag gelegt werden sollten. Wenn man die eigenen
Ansätze für richtig hält und Grundsatztreue gegenüber seinen Zielen,
Inhalten und Formen bewahrt, dann stabilisiert und immunisiert sich die Position
der Projekte. Und aus dieser Position ist die Aufstellung und Einhaltung von
Regeln möglich, die plausibel sind und die notwendige Rücksicht auf bewährte
und geschriebene Förderungsgrundsätze nehmen.
Es ist im übrigen nicht einzusehen, wenn die
arbeitsmarktliche Betrachtung und Einschätzung von Projekten mit sozialen
Zielsetzungen oder alternativen Dienstleistungs- und Produktionsinhalten und
-formen als eine unzulässige Instrumentalisierung angesehen wird. Jedes
Projekt, in dem Menschen tätig werden, hat arbeitsmarktliche Relevanz. Das gilt
sogar für solche Projekte, die gewissermaßen nur alternativ zu den
herkömmlichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, beispielsweise in den sozialen
Diensten initiiert und ausgefüllt werden. Ehrenamtliche Hilfen sind prinzipiell
auch immer in einer Beziehung zu professionalisierten Tätigkeiten zu
betrachten. (...)
Die Kenntnisse über die Verbreitung selbstorganisierter
Projekte sind nicht sicher genug, Schätzungen weichen wegen der
unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Ausgangspositionen stark voneinander
ab. Sie reichen von bundesweit 100.000 bis 600.000 aktiven Mitgliedern, Zahlen
in diesen Größenordnungen sind hinsichtlich der Bedeutung für den
Arbeitsmarkt allemal interessant, ob sie an der Untergrenze oder an der
Obergrenze solcher Schätzungen liegen. Sie gewinnen ihr eigenes Gesicht nicht
nur angesichts einer Zahl von weit über zwei Millionen registrierten
Arbeitslosen. Die Tatsache, daß ein so wichtiges und wirksames Mittel der
Arbeitsmarktpolitik wie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen jährlich derzeit
80.000 Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen, zeigt die Bedeutung
dieser geschätzten Größenordnungen von Selbsthilfeaktivitäten für den
Arbeitsmarkt. (...)
Dabei spielen Beratungshilfen für die Projekte, Zugang zu
Förderungsmöglichkeiten, Erschließung von Finanzierungsquellen, Beseitigung
von Wettbewerbsnachteilen oder Umgestaltung von Rechtsvorschriften
beispielsweise zur Erleichterung der Gründung von Genossenschaften eine
wichtige Rolle. Um Selbsthilfeprojekten mit ihren Beschäftigungswirkungen
besser entsprechen zu können, wird auch eine offenere Ausgestaltung der
rechtlichen Bestimmungen für die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
zu prüfen sein. Erfahrungen aus diesbezüglichen Änderungen des
österreichischen Arbeitsmarktförderungsgesetzes können dabei eine brauchbare
Orientierung geben. Wichtig bleibt bei solchen Überlegungen aber immer, daß
Übergänge von der Tätigkeit in Selbsthilfeprojekten in den allgemeinen
Arbeitsmarkt möglich bleiben müssen. Wo solche Übergangsmöglichkeiten noch
nicht entsprechend ausgestaltet sind, müssen die Voraussetzungen hergestellt
werden. Damit würde tendenziell auch die Diskussion um die Selbstausbeutung
zurücktreten und an Schärfe verlieren. Der Gedanke gesellschaftlicher
Solidarität würde wieder stärker gegen häufig genug aus der Not geborene
Segmentierungen am Arbeitsmarkt stehen. Auch dies berührt Fragen der Identität
der Projekte, Autonomieverständnis und Sorge vor Enteignung.
Besonders schwierig ist die Beziehung von
Selbsthilfeprojekten zu Vorhaben und Märkten, zu denen sie ganz allgemein als
Konkurrenz empfunden werden. Zwar erbringen die meisten Selbsthilfeprojekte
bisher Dienstleistungen oder Produktionsleistungen, die traditionell von den
öffentlichen Händen oder von ihnen beauftragten Organisationen erstellt
werden. Aber es gibt immer mehr Projekte, die Dienste und Produkte auf dem
privatwirtschaftlichen Sektor am Markt anbieten, im Wettbewerb mit anderen. Hier
wird mit scharfem Widerstand aller bisher am Markt beteiligten Mitbewerber zu
rechnen sein, Wenn durch Projekte Angebote gemacht werden, die eine spezielle
öffentliche Unterstützung, z.B. durch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM),
erfahren würden. Hier geht es zunächst um Wettbewerbsbedingungen. Aber es geht
auch um ordnungspolitische Positionen und Zuständigkeiten. Diese Frage kommt
schon jetzt im Zusammenhang mit ABM immer wieder auf, wenn Aufträge der
privaten Anbieter angeblich verloren gehen oder nicht erteilt werden, weil
Aufgaben im Rahmen von ABM in öffentlicher Trägerschaft ausgeführt werden.
Dies würde im gleichen Umfang auch gegen Selbsthilfeprojekte geltend gemacht
werden.
Natürlich gilt dabei nicht nur das Merkmal, daß die
Arbeiten im öffentlichen Interesse liegen, sondern daß sie auch zusätzlich
sein müssen. Gleichwohl ist es schwierig zu entscheiden, ob die Zusätzlichkeit
vielleicht nur ein zeitliches Vorziehen von Arbeiten bedeutet, die sonst zu
einem späteren Zeitpunkt als Nachfrage am Markt erscheinen. Es ist kein
einfacher und auch ein systematisch umstrittener Vorgang, neue und zusätzliche
Aufgaben zu definieren. Die Meinung darüber geht auch in der Praxis
auseinander. Ökologische Projekte etwa können durch herkömmliche Anbieter
unter gegebenen Bedingungen ebenso erfüllt und erstellt werden wie durch
Selbsthilfegruppen. Aber auch soziale Dienste, die zusätzlich entwickelt und
angeboten werden und auf einen nachweislichen Bedarf stoßen, müssen danach
befragt werden, ob diese Aufgaben nicht auch von den traditionellen Trägern im
Rahmen von deren Zuständigkeiten in der Daseinsvorsorge hätten wahrgenommen
und als Pflichtleistung angeboten werden müssen. Folglich wird stets die Frage
zu beantworten sein, ob hier zusätzliche Arbeit entsteht oder ob eine
Förderung eines solchen Projektes lediglich zu einer Umverlagerung von Arbeit
aus dem Bereich des herkömmlichen verfaßten Arbeitsmarktes zu
Selbsthilfegruppen führt. Dann tritt das arbeitsmarktliche Interesse zurück,
weil sich in Arbeitsmarkt- und Beschäftigungswirkung per Saldo nichts ändert.
In dem Maße, in dem Selbsthilfeprojekte wie selbständige
Unternehmer am Markt auftreten und das öffentliche Interesse aus dem
Unternehmenszweck nicht zweifelsfrei hervorgeht, ist daher auch eine Förderung
als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht möglich. Je deutlicher ein
Selbsthilfeprojekt mit anderen Akteuren am Markt in Wettbewerb tritt, um so
härter wird dann auch gegen eine Verbindung mit ABM die Einrede der
Wettbewerbsverzerrung durch Lohnsubvention geltend gemacht. Es ist allerdings
vorstellbar, daß ABM eine andere Prägung erfährt und auch als Instrument zur
Förderung neuer Selbständigkeit allgemeine Anwendung findet. Das könnte dann
auch für entsprechende Selbsthilfeprojekte gelten. Allerdings wären dazu
gesetzliche Änderungen erforderlich. So kennt das österreichische
Arbeitsmarktförderungsgesetz eine Arbeitsplatzbeschaffung im Rahmen von
gemeinnützigen Einrichtungen, ohne Festlegung auf eine bestimmte Rechtsform;
ihnen muß aber das Element des Entstehens auf Selbsthilfegrundlage gegeben
sein.
Deutlich wird jedenfalls, daß Selbsthilfeprojekte und
arbeitsmarktliche Instrumentarien nicht beliebig zusammenzuführen sind. Die
arbeitsmarktlichen Instrumente können nicht ausschließlich für die Projekte
neu erfunden oder umgebaut werden, sie sollten aber nicht so beschaffen sein und
hantiert werden, daß sie für die Projekte keine Anwendung finden können.
Prinzipielles Mißtrauen macht bewegungsunfähig und versperrt Chancen der
gesellschaftlichen Entwicklung, die in den Werkstätten und Labors der
Selbsthilfeprojekte ausprobiert werden müssen.
Quelle: Klaus Novy u.a. (Hrsg.): Anders
leben, Bonn 1985
Kasten:
Oswald von Nell-Breuning (hat) darauf hingewiesen, daß es
nicht nur darauf ankommt, Beschäftigung zustande zu bringen, sondern den
Menschen Arbeit zu geben, die auch Sinn hat, die auch Sinn gibt. Das bloße
Vermitteln einer Beschäftigung im Sinne einer sozialen Verwahrung ist etwas,
was gegen die Menschenwürde steht. Das muß man sagen, weil wir uns angewöhnt
haben, mit den Instrumenten so zu hantieren und auch mit den Benennungen der
Instrumente so umzugehen, daß man manchmal das Gefühl hat, sie haben mit
sinnvoller Arbeit nur wenig zu tun. Ich meine auch das Wort
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, das von uns, vielleicht nicht zufällig, immer in
der Abkürzung ABM gebraucht wird, weil wir beim vollen Aussprechen der
Bezeichnung darauf kommen müssen, daß es nicht nur um eine der vielen
Schludrigkeiten und Unzulänglichkeiten in unserer Sprache geht, sondern auch
darum, unsere Hilflosigkeit auszudrücken, wie wir denn genügend sinnvolle
Arbeit mobilisieren können.
Olaf Sund am 14.12.84 auf einem Hearing
zur neuen Armut in Bonn (Anm. d. Red.)
Kasten:
Guter Rat ist teuer - oder: Nicht gutgläubig auf die
Ratschläge des Arbeitsamtes vertrauen!
Red. Bremen Dieser Fall ist für
alle interessant, die bereits Leistungen vom Arbeitsamt beziehen
(Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe) und nun in eine Aus- oder Weiterbildung
gehen, die nicht vom Arbeitsamt finanziert wird und wo keine Sozialversicherung
gezahlt wird (z.B. Schule).
Ein Beispiel, wie man es nicht machen darf!
Als Leistungsempfängerin von Arbeitslosengeld und nach einem
halben Jahr von Arbeitslosenhilfe, entschloß sich Frau Sabine S. zu einer
zweijährigen schulischen Berufsausbildung. Ab August 1983 wurde deshalb die
ursprünglich bis März 1984 bewilligte Arbeitslosenhilfe aufgehoben, da Frau
Sabine S. nun Schülerin war und ,,dem Grunde nach" Anspruch auf BAFÖG
hatte. Auf dem Arbeitsamt wurde Frau Sabine S. mündlich zugesichert, daß sie
ihren Restanspruch auf Arbeitslosenhilfe nach der Schulzeit wieder geltend
machen könnte. Zwei Jahre später wird sie hingegen beim Arbeitsamt auf § 135
Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verwiesen:
,,Der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe erlischt, wenn seit dem
letzten Tag des Bezuges von Arbeitslosenhilfe ein Jahr vergangen ist."
... ,,Sie haben Ihren Anspruch verwirkt", wurde Frau
Sabine S. beim Arbeitsamt mitgeteilt! - Oder: ,,Unwissenheit schützt vor
Schaden nicht!"
Wer also seinen Leistungsbezug unterbricht, die Gründe
spielen dabei keine Rolle, Hauptsache das Arbeitsamt ist nicht mehr finanziell
dabei beteiligt (d.h. alle Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen, die nicht vom
Arbeitsamt finanziert werden), der muß bei Arbeitslosenhilfe spätestens vor
Ablauf eines Jahres und bei Arbeitslosengeld vor Ablauf von drei Jahren
mindestens einen Tag Leistung empfangen haben. Sonst bleibt nur noch das
Sozialamt.
M.G.