"WIR" UND "DIE"
Identität, Symbole und Rituale
Motiv von der Kölner
Klagemauer
Foto: arbeiterfotografie.com
Das "Deutsch-sein" hat wieder
Konjunktur. Seit der Fußballweltmeisterschafts-Nationalbegeisterung sind die
Schwarzrotgold-Lappen nicht wieder verschwunden, wie Optimisten der
links-alternativen Szene zuversichtlich gemeint hatten. Die "Patriotismus"-Welle
rollt weiter. Von Regierungspolitikern und konformen Wirtschaftsjournalisten wie
z.B. Henrik Müller (einen der Gründe für die Dauerkrise Deutschlands erblickt
er in der "gebrochenen nationalen Identität") wird sie erfolgreich
befördert. Und passend sind Vertriebenenverbände emsig dabei, Holocaust-Opfer
gegenüber den Vertriebenen ins Abseits zu drängen, eine
Arnold-Breker-Ausstellung wird feierlich inszeniert, gewalttätige Übergriffe
auf "Rausländer" machen kaum noch Schlagzeilen.
Ariane Dettloff, Redaktion Köln - Nationale
Identifizierung ist wieder "in", wenn auch in neuerer Aufmachung. Die
alten Symbole gehören trotzdem dazu. Jemand wie der Spiegel-Redakteur und
Verfasser des Bestsellers "Wir Deutschen" Matthias Matussek wird
erfreut darüber sein. Er erklärt einen "gewissen Nationalstolz" als
gesund. Dass die Abwertung anderer Nationen inbegriffen ist, stößt ihm bei
EngländerInnen, die er zitiert, zwar unangenehm auf, doch praktiziert er selbst
solche Abwertung gerade jenen gegenüber völlig ungeniert. Das Augenzwinkern
dabei wirkt eher angestrengt. Als "Urimpuls" sogar erscheint ihm die
"Liebe zum Vaterland". Er sei, so Matussek, wohl entstanden, "als
sich die erste Horde zusammenfand, um sich zu schützen und gegen Gefahren von
außen zu verteidigen." Deutlich wird: Ausgrenzen gehört zur Identität.
Um sich ihrer zu versichern, muss das "Fremde" abgewehrt werden. Und
allerlei Hilfsgerüste, die der Eingrenzung dienen sollen, werden konstruiert.
Bei Matussek z.B. ist die "Natur" der Deutschen "leise und
effektiv". Über derlei Dumpfsinn sind die Individuen in
selbstorganisierten Zusammenhängen im allgemeinen erhaben.
Die SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln) z.B. antwortet der
Patriotismus-Euphorie mit ihrem am Haus wehenden Transparent: "No nation,
no war". Doch auch bei Alternativen sind Identitäten, Symbole und Rituale
eigener Machart populär: schwarze Sterne, Friedenstauben, linke Lieder. Sind
sie, weil bislang nicht dermaßen missbraucht wie alles Nationale, eine
emanzipative Alternative? Dieser Schwerpunkt trägt Gedanken von Mitgliedern
unterschiedlicher Gemeinschaften zum Thema bei. Gender-Identitäten etwa sind
genauso konstruiert wie nationale. Wie gehen wir in unseren alltäglichen
Zusammenhängen damit um? Sicher werden in politischen Kommunen und alternativen
Bewegungen "Männlichkeits"modelle, wie sie der Kulturwissenschaftler
Frank Wichert noch 1997 als vorherrschend im deutschen Printmediendiskurs
ermittelt hat, abgelehnt: "Mann" muss aktiv, erfolgsorientiert und
zielstrebig sein - was zählt, ist der Erfolg, auch um den Preis der Rücksichtslosigkeit".
Doch wie können derart sozialisierte Menschen entsprechenden Mustern und
Erwartungen entgegenwirken? Valerie aus "Twin Oaks" in Virginia/USA
erläutert ein Sprachexperiment, das KommunardInnen dort seit vielen Jahren
praktizieren. Ohne alternative Symbole und Rituale kommt kaum eine Gruppe aus.
Gut so, meinen unsere AutorInnen - wenn denn diese nicht ausgrenzend verwendet
werden, wenn sie flexibel angewendet werden, wenn sie nicht fetischisiert,
sondern immer wieder überdacht werden.
Dass Identitäres auch bei unseren (Marken-?)Klamotten mitschwingt, blieb wohl
kaum jemand verborgen. Die Anmerkungen des Ethnologen Nigel Barley hierzu sollen
den Blick darauf ein wenig amüsiert erweitern. Was noch sehr interessant sein könnte,
aber in dieser Ausgabe leider fehlt, ist die Rolle der Musik. Einerseits wird
ihr ja "Normen sprengende Kraft" nachgesagt, andererseits kann sie
ganz prima Normen stützen und auch setzen - erinnern wir uns beispielsweise an
die identitären Kontroversen zwischen Beatles- und Stones-Fans! Und musizierend
nationaler Missbrauch von der Hymne bis zur Marschmusik ist notorisch.
Die politische Dimension der Identitäts-Thematik reißen die Artikel von
Elisabeth Voß und "Krisis"-Autor und Wertkritiker Norbert Trenkle an.
Mein Fazit nach einigem Lesen und Nachdenken zum Thema lautet etwa:
"Identität (mitsamt Symbolen und Ritualen) braucht es nur da, wo
Entfremdung herrscht." Und ich möchte es mit Andrej Sacharow halten, der
sagte: "Hört auf, wir zu sein. Seid mutig und handelt als Ich".
Mensch kann dies alles selbstredend auch ganz anders sehen. Die "CONTRASTE"-Redaktion
würde sich freuen, wenn dieser
Schwerpunkt eine Debatte mit verschiedensten Ansichten und Erfahrungen einleiten
würde.
Zum Weiterlesen:
Caduf, Corina und Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.): Rituale heute.
Theorien-Kontroversen-Entwürfe. Dietrich Reimer Verlag Berlin 2001
Alfred Schober/Siegfried Jäger (Hg.): Mythos Identität. Fiktion mit
Folgen. Unrast Verlag Münster 2004
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10