Plädoyer für Nicaragua
Wenn wir uns heute im Fernsehsessel
zurücklegen und den Reden Reagans lauschen, der uns von der Bedrohung des
Weltfriedens durch noch einen aggressiven kommunistischen Staat in Mittelamerika
warnt, dann haben wir Probleme, diese Aussagen überhaupt mit dem Nicaragua in
Verbindung zu bringen, das wir kennen. Das Nicaragua, das wir aus unzähligen
Berichten und manche von uns auch aus eigenem Augenschein kennen, ist weder
kriegsdurstig noch totalitär. Es unterzeichnete den Contadora-Friedensplan,
setzt sich für die Entmilitarisierung der Region ein, reagiert auf die
monatelangen Angriffe von Honduras und Costa Rica aus defensiv und überschritt
ihre Grenzen nie.
Birgit Müller - Mit seinem Wirtschaftssystem
versucht es sich an dem schwierigen Experiment einer Dualwirtschaft, mit einem
vom Staat durch Steuererleichterungen geförderten privat-wirtschaftlichen
Sektor, der über eine zentral gelenkte Planwirtschaft hinausgeht. Die
Sandinisten versuchen den Bauern, die auf dem von den Somozisten enteigneten
Land Kooperativen aufbauen, die Entscheidung über ihre Organisationsstruktur so
weit wie möglich selbst zu überlassen.
In den letzten fünf Jahren sind 1 Mio. Menzanas Land an 31.000
Bauernfamilien übereignet worden. Über 60.000 Campesinos gründeten insgesamt
3.057 landwirtschaftliche Kooperativen. Für neue Siedlungsgebiete wurden
insgesamt 12.900 Eigentumstitel für Grund und Boden an Familien übertragen.
Die Sandinistas ermöglichen ihnen zu experimentieren statt zu diktieren. Der
Staat greift nur da ein, wo die lebenswichtigen Grundbedürfnisse der
Bevölkerung gewahrt werden müssen. Diesem Zweck dient beispielsweise die im
ganzen Land aufgebaute Ladenkette "tienda popular". In den meist
einfachen Läden sind bis zu 15 Grundnahrungsmittel und Gegenstände des
täglichen Bedarfs zu stark subventionierten, auch für Arme erschwinglichen
Preisen zu haben. Unbestreitbar sind sicher auch Errungenschaften im
Gesundheitswesen. In den ersten fünf Jahren der Revolution wurden 309
Gesundheitsstationen, vier Krankenhäuser errichtet und 3,3 Mio. Impfungen
durchgeführt.
Seither ist die Kindersterblichkeitsrate rückläufig, die Unterernährung
abgebaut und die Lebenserwartung hat sich allgemein erhöht. Nicaragua wurde von
der OMS als "Modellfall für die medizinische Versorgung" bezeichnet.
Denkt man weiterhin an die mit gewaltigen Aufwand durchgeführte
Alphabetisierungskampagne, versteht man, wieso die FSLN, bei völlig korrekten
Wahlen, ihre Verankerung in der Bevölkerung bestätigt bekommt.
Solidarität ist (k) eine Waffe
Nicaragua war in den Jahrzehnten vor der sandinistischen Revolution ein
typischer Satellitenstaat der USA, mit einer auf Export ausgerichteten
Landwirtschaft, direkt und indirekt von US-Konzernen kontrolliert und einer
Satellitenindustrie, die die landeseigenen Rohstoffe nicht verarbeitete und für
die Herstellung von Fertigprodukten die Halbfertigprodukte vorwiegend aus den
USA importierte. Abhängig von der Schuhsohle bis zur Schraube, die den
Traktormotor zusammenhält!
Die Sandinisten haben in den vergangenen fünf Jahren versucht, diese
Abhängigkeiten durch eine Diversifizierung der Landwirtschaft, die Errichtung
eigener verarbeitender Industrien zu überwinden und sie haben trotz der
ungeheuren Investitionen die internationalen Kredite zurückgezahlt, um nicht in
den Würgegegriff der IWF Zwangsmaßnahmen zu geraten. Sie haben im Westen wie
im Osten um Kredite nachgesucht - sie allerdings hauptsächlich im Osten
erhalten. Ohne sich deshalb dem östlichen Block zuzurechnen. Im Gegenteil
unterstreichen sie immer wieder, daß sie blockfrei sind und es bleiben wollen.
Nicaragua hat die Sympathie der meisten anderen blockfreien Länder für ihren
Versuch, einen eigenen Weg zu gehen, der das Abhängigkeitsverhältnis von Nord
und Süd durchbricht, und daher beispielhaft sein könnte für so viele Länder
der "Dritten Welt".
Die Sandinisten hatten sich für ihre Politik auch die Unterstützung eines
starken, selbstständigen Europas erhofft, haben jedoch seit Reagans Amtsantritt
von Regierungsseite fast nur noch Lippenbekenntnisse erhalten. Die
internationale Hilfe, die ihrem durch 50 Jahre Somoza-Diktatur völlig
ausgesaugten Lande doch zuteil wurde, kam hauptsächlich aus dem Ostblock und
von Kuba. In Europa halfen vorwiegend die Bevölkerung, die Kirchen und
humanitäre Organisationen sowie kleinere Staaten mit liberaler Tradition wie
Holland , Schweden, Österreich.
In ihren steten Bemühungen um Frieden und Entmilitarisierung in
Zentralamerika hatten sie die Unterstützung der Menschenrechtsorganisationen
und des Weltsicherheitsrates (mit Ausnahme der USA), die ihre Außenpolitik für
moralisch einwandfrei erklärten. Die Sandinistische Revolution wurde
international auch von amnesty international als eine der humansten Revolutionen
nach dem Sieg anerkannt. Trotzdem, auch diese Revolution hat ihre Tragödie
durch die gewaltsame Umsiedlung der an der Atlantikküste siedelnden
Miskito-Indianern bitter erfahren. Kurz nach der Revolution, als sich die
geflüchteten Somozisten, massiv durch die USA unterstützt, an der
honduranischen Grenze neue Stützpunkte aufbaute, ordnete die Regierungsjunta
die Umsiedlung der grenznahen Miskito-Indianer ins Landesinnere an. Die
Durchführung dieser Umsiedlungsaktion im schwer zugänglichen Indianergebiet
geriet der jungen Revolutionsregierung außer Kontrolle. Sandinistische Soldaten
vertrieben in zahlreichen Fällen die Miskito-Indianer durch die Vernichtung
ihrer Dörfer und erschossen zum Teil ganze Familien. Geschätzt wird, daß 300
bis 1000 Miskito-Indianer ums Leben kamen. Die sandinistische Regierung hat
diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen zugegeben und wiederholt bedauert.
Durch die jüngst aufgenommenen Gespräche mit Miskito-Führer Brooklyn Rivera
und einer Reihe anderer Initiativen versucht die Regierung nun ein Arrangement
mit den Indianern zu finden.
Nicaragua könnte ein Beispiel sein für eine friedliche und selbstständige
Entwicklung eines Landes der "Dritten Welt", ein Lichtblick im Dunkel
der immer größer werdenden Not, von der immer wieder zu Unrecht behauptet
wird, sie könne nur dank der Entwicklung nach Kriterien der Industrienationen
gelindert werden. Nicaragua könnte so ein Beispiel sein, wenn nicht diese
Industrienationen und allen voran die USA nicht ein konkretes, wirtschaftliches
(imperialistisches) Interesse an seiner Ausbeutung hätten und nichts mehr
fürchten, als daß das nicaraguanische Beispiel Schule macht. Es sind gerade
die, die wie Präsident Reagan die christliche Moral schnell auf den Lippen
haben, die hier durch ihre infamen Lügen und mörderischen Angriffe jede
Bemühung um Gerechtigkeit verhöhnen.