EIN ARCHIPEL SELBSTVERWALTETER KOOPERATIVEN
Longo mai
Bevor die Tournee durch mehrere Länder
beginnt, wird die
„Passerelle défile“ dem kritischen Publikum in der Grange neuve präsentiert.
Vor nun mehr 31 Jahren beschlossen die Gründerinnen
und Gründer von Longo Mai auf einem internationalen
Jugendkongress in Basel, in den von Entvölkerung
bedrohten Randregionen Europas "europäische
Pioniersiedlungen" zu gründen. Diese "experimentelle
Zonen" sollten Jugendlichen aus allen Ländern Europas
die Möglichkeit geben, ihre eigenen Vorstellungen eines
solidarischen und gleichberechtigten Zusammenlebens
zumindest ansatzweise konkret zu verwirklichen. Es war
das Jahr der ersten wirtschaftlichen Rezession in Europa
seit dem Zweiten Weltkrieg, der Beginn der
Jugendarbeitslosigkeit. Es war das Jahr des
terroristischen Anschlages auf die Olympiade in
München, die Erstickung der Jugendrevolte von
"Achtundsechzig" unter dem Vorwand der
Terrorismusbekämpfung durch die gesetzliche
Einschränkung demokratischer Grundrechte. All diese
Ereignisse hatten unsere Hoffnung auf ein friedliches
Zusammenleben aller Völker in weite Ferne gerückt und
uns zu dem Schritt bewogen, am Rande der
Gesellschaft eine "Utopie" zu leben.
Jürgen, Hof Ulenkrug - Wo stehen wir heute, und
was müssen wir neu überdenken? Die Bürgerbewegungen im Osten Europas und das
Ende des Kalten Krieges hatten für kurze Zeit die Hoffnung auf eine friedliche
Verständigung zwischen den Völkern aufkommen lassen. Diese Hoffnung wurde von
den reichen Ländern jedoch nur mit der Forderung nach Anpassung an die ehernen
Prinzipien der Marktwirtschaft beantwortet und endete mit der Einführung von
Protektoraten im Balkan.
Diejenigen, die die Jugendrevolte und ihre grundlegende Gesellschaftskritik
als eine Gefahr für die Demokratie bekämpft hatten, haben gerade neue Kriege
angekündigt, als lokale "Operationen", aber jederzeit weltweit durchführbar.
Ein Großteil der reichen Länder hat sich darauf eingelassen, nicht zuletzt
auch mit der Hilfe von Menschen, die vor dreißig Jahren noch ähnliche Ideale
vertraten wie wir. Gerechtigkeit und Demokratie sind zur demagogischen
Rechtfertigung von militärischen Interventionen verkommen. Der Graben zwischen
Arm und Reich wird zum Limes unserer Zeit. Die Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen der Menschen ist zwar ins Bewusstsein von vielen gelangt, wird
aber stärker denn je betrieben.
Das Angebot an die Jugend, sich in einem immer härter werdenden
Konkurrenzkampf zu bewähren, um auf dem Rücken der "Rechtlosen"
einsam und sinnlos zu konsumieren, hat ein wenig an Glanz verloren. Menschen
ohne Land, ohne Papiere, ohne Wohnung, ohne Arbeit versuchen, an das Tageslicht
zu treten. Sie werden bedenkenlos in das Dunkel der "Rechtlosigkeit"
zurückgetrieben. Sie sind aber zu einem festen Bestandteil des herrschenden
Wirtschaftsmodells geworden. Wo eine Gesellschaft die Wirklichkeit so verdrängt,
ist das Aufkommen von religiösem oder nationalistischem Fanatismus kein Wunder.
Im Gegenteil, er erscheint wie gerufen, um die neuen Kreuzzüge der reichen Welt
zu rechtfertigen.
Aus der ersten "europäischen Pioniersiedlung" in der Provence ist
ein kleiner Archipel von Kooperativen gewachsen, die sich das provenzalische Grußwort
"Longo Mai" (auf deutsch: Lange möge es dauern) als gemeinsames Motto
gegeben haben. Rund 120 Erwachsene aus elf oder 12 verschiedenen Ländern,
genauso viele Jugendliche und Kinder leben in den Kooperativen (außer Finca
Sonador). Drei Jahrzehnte erscheinen lang in dem intensiven Leben
gesellschaftlicher Auseinandersetzung und beim Suchen und sind dennoch wenig in
der Geschichte von Revolten.
Eine ganze Reihe von befreundeten Projekten sind um unsere Kooperativen herum
entstanden. Eine neue Generation ist herangewachsen und sucht ihre eigenen
Formen der Auseinandersetzungen. Der Austausch mit den kleinen und großen
Utopien von Menschen und Gemeinschaften, mit Jugendlichen auf der Suche nach
lebenswerten Idealen und die Solidarität mit den "Rechtlosen" wird
weiterhin ein Teil unseres Lebens sein. "In einer Gesellschaft, die auf der
Konkurrenz aufgebaut ist, kommt der Krieg von ganz alleine, man muss nichts dafür
tun, man kann nur alles dagegen tun", schrieb Heinrich Mann in den dreißiger
Jahren des letzten Jahrhunderts - eine Erkenntnis, die der Hartnäckigkeit
unserer Utopie zugrunde liegt.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10