
Wandelsblatt Kurzkrimi
Casablanca in Kreuzberg
Berlin-Kreuzberg, Donnerstag abend gegen 21 Uhr: Agent 4712 von der NÖC
(Nationale Ökospardienst Companie) eilt mit großen Schritten über den ersten
Hof des Gewerbekomplexes im Paul-Linke-Ufer 44a. Es ist kühl an diesem Abend im
Spätherbst und 4712 zieht sich, fröstelnd, den Kragen seines Trenchcoats hoch.
Gerade ist er dabei, die Durchfahrt zum 2. Hof zu durchqueren. Sein Schritt
verlangsamt sich, als er das Ende der Durchfahrt erreicht hat. Vor ihm tut sich
ein kleiner betonierter Platz auf; der Hof ist vollgestellt mit Autos, und es
liegt der Geruch von Kunstharzfarbe und Verdünnungsmittel in der Luft. Rechts
und links bzw. vor 4712 ragen in ungefähr 10 bis 15 m Entfernung gelb-graue
Fassaden empor. Die kalte Dunkelheit im Hof wird durch einen bloßen Lichtstrahl
gestört: Im 2. Stock des rechten Seitenflügels brennt im Büro von STATTwerke
noch Licht. 4712 schaut, auf einmal sichtlich nervös, zum erleuchteten 2. Stock
hinauf. Er fängt an, in seinen Hosen- und Jackentaschen zu wühlen, holt nach
einiger Zeit des Suchens eine leicht lädierte Gauloises heraus; 4712 zündet
sie, indem er sein ebenfalls herausgekramtes Streichholz mit einer flinken
Handbewegung über den Beton der Hauswand schnellen läßt, an. Hastig zieht er
an der Zigarette - dann macht er sich auf in Richtung STATTwerke-Büro. In
Sekundenschnelle hat er den Treppenaufgang des 2. Seitenflügels erreicht. Hier
angekommen, vermeidet 4712 alles was auffällig ist: Das Licht im Treppenhaus
bleibt aus und die nur halb verbrauchte Zigarette wird weggeworfen. Oben im 2.
Stock angekommen, hat 4712 Schweißperlen auf der Stirn; sein Herz schlägt 170.
Deutlich hört er jetzt die Stimmen im STATTwerke-Büro. Hier unterhalten sich
vier oder fünf Leute über ein brisantes Thema, das 4712 ganzes Interesse
findet und das letzten Endes der Grund für sein nächtliches Kommen war.
Plötzlich ist das Treppenhaus für Sekunden mit lautem Getöse erfüllt:
4712 ist über eine leere Cola-Büchse gestolpert. "Scheiße" zischt
es über seine Lippen. Drinnen bei STATTwerke ist für einen Augenblick
"Funkstille", dann fragt jemand "watn detto"?
"Vermutlich Elisabeth*) von unten", antwortet eine Frauenstimme und im
gleichen Moment geht man im STATTwerke-Büro wieder zur Tagesordnung über.
4712 , der schon eine leicht nach vorne geneigte Fluchtstellung eingenommen
hatte, fällt ein Stein vom Herzen - "Gott sei dank", denkt er,
"noch einmal Schwein gehabt". Und dann hört er etwas, worauf er
eigentlich die ganze Zeit gewartet hat: Eine Frauenstimme verkündet im
energischen Tonfall : "Die Netzwerker versuchen sich mit ihrem Kongreß
'Zukunft der Selbsthilfe' wieder mal in den Vordergrund zu spielen. Dabei kommt,
wie üblich nur sozialdemokratisches Gesülze heraus, wie z.B. 'alternative
Tarifverhandlungen'. Ich denke, wir sollten den Kongreß boykottieren. Außerdem
haben wir mit denen*) sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Also boykottieren
wir! Alles klar?" Und dann hört 4712 wie alle im Chor murmeln "alles
klar".
Eine andere Frauenstimme fährt fort: "Wenn wa uns einig sind, müssen
wa nur noch den Kollektiven beipuhlen, det se mitziehen". Na gut, sagt ein
anderer STATTwerkemitarbeiter, "ich knöpf mir die Drucker und Bäcker
vor" - "und ick die übrigen Handwerker", meint die Frauenstimme
von vorhin, "und ich die sozialen Projekte ...", und so ging es eine
Weile noch weiter .
4712, der immer noch in der 2. Etage wie angewurzelt vor dem STATTwerke-Büro
steht, ist das genug; er hat jetzt die Informationen, die er braucht und
verschwindet auf leisen Sohlen. Schnell eilt er die Treppen hinunter,
überquert, ohne sich noch einmal umzudrehen, den 2. und 1. Hof des
Paul-Lincke-Ufer 44a.
Tags darauf trifft 4712 einen Journalisten vom Wandelsblatt im "Mirnikrie",
dem er seine Spioniergeschichten erzählt. Der Wandelsblattredakteur ist
ziemlich begeistert und klopft 4712 zufrieden auf die Schulter. Sie trinken noch
einen Sherry und dann verschwinden beide aus dem Mimikrie; 4712 in die nächste
Kneipe und der Wandelsblattredakteur in sein Büro, um eine Story zu den
Spioniergeschichten von 4712 zu schreiben. Im folgenden einige Auszüge aus der
Story: „Wortführer des Boykotts waren die Nobelalternativbetriebe um den „Lundkreis"
und ihrer Beratungsfirma STATTwerke; aus welchen Gründen sich die ASH Frankfurt
abwechslungsweise wieder mal auf die STATTwerkeseite schlug, war nicht zu
erfahren. Die Boykottgründe ließen an Fadenscheinigkeit nichts zu wünschen
übrig (...). Es war ganz einfach der abgeschmackte Gegensatz von STATTwerken
und Netzwerken Berlin, der in dem Boykottaufruf eine neue Blüte trieb" (s.
Michael Berger: Die Zukunft der Selbsthilfe - eine Tagung in Berlin -, in:
Wandelsblatt, Nov. 84, S.2).
So war das also mit dem Boykott; unser Agent 4712 hat die Tatsachen ans Licht
gebracht. Allerdings blieb dabei die Wahrheit auf der Strecke. Die
"wahren" Boykottgründe sollten dem Artikel von Monika entnommen
werden. Hier haben diese Gründe nichts zu suchen, da es sich, wie bei dem
Wandelsblattartikel zur Berliner Selbsthilfegruppe, eben nur um einen
Wandelsblattkrimi handelt.
Marlene Kück
*) Unser Hofhund