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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

FESTIVALKULTUR 2001

- leben statt im Falschen!

Für ein paar Wochenenden im Sommer ist die Normalität aufgehoben, es sind gar nicht so wenige, die sich ein altes, verwaschenes, psychedelisches Hemd anziehen und so aussehn, als sähen sie immer so aus - der Bart wächst auch sehr schnell, afghanische Hosen muss man anhaben, bestickte Westen, Batiktücher, geschmackvoll aufeinander abgestimmte Farben, viel indische Baumwolle, die unverzichtbaren indischen Kettchen und Glöckchen, ein buntes Band in den wilden Haaren (die Haare sind immer das erste an uns, das nach Ungebundenheit und Freiheit strebt, die Hippiebändchen im Haar bedeuten demnach eine friedliche Zügelung des Freiheitsdrangs), und das Schuhwerk übernimmt automatisch das Wald- und Wiesenkolorit - dieses Outfit ist seit Jahren ausstiegserprobt, sodass man irgendwie meint, in Finkenbach, Burg Herzberg oder Stemwede das Territorium einer schöneren, freiheitlichen Kultur zu betreten.

Herrmann Cropp, Redaktion Osnabrück - Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die sommerliche Freiheit die Menschen schöner macht. Diese Beobachtung kann jeder anstellen, und das muss man auch tun, um die soziale Bedeutung der Festivalkultur zu verstehen, Kunst ändert die Menschen in ihrem sozialen Verhalten, Kunst ändert die Gesellschaft. Es scheint außer denen, die die Gesellschaft über Ökonomie und Politik verändern wollen, eine breite Fraktion zu geben, die die Schönheit zum Mittel der Subversion machen und sich statt an den Verstand an die Herzen der Menschen wenden: die Künstler. Der Zuspruch könnte ihnen recht geben. "Ein Akkord meiner Gitarre verschafft sich mehr Gehör als Kanonendonner," sagte der kubanische Musiker Repilado. Wir müssen jetzt vielleicht nicht untersuchen, welche Fraktion erfolgreicher ist, es wird sicher immer ein spannendes Thema sein, wieweit ein Woodstock die Menschen und die Gesellschaft verändern kann, jedenfalls trifft man häufiger unmusikalische Rebellen als Künstler, die nicht auch rebellisch sind, und das Dogma vom "kein richtiges Leben im falschen" wird jeden Sommer widerlegt.

Auf einem dieser Festivals sprach mich jemand an, "Bist du Herrmann?" - "Ja, wieso?" - "Du hast mir mal bei einem Embryokonzert ein Buch geschenkt." - "Das muss lange her sein, weiß ich gar nicht mehr." Er war ein Musiker im fortgeschrittenen Alter, weiches Gesicht, Sonnenbrille, wenig Haare, aber die schulterlang, ein in den Farben nicht mehr definierbares Tshirt spannte sich über seinen Bauch, in dem er wahrscheinlich alle guten Ideen seiner kämpferischen Jugend begraben hatte, seine Jeans hing ziemlich tief, aber nicht im Gangstalook ohne Gürtel, sondern weil sie nur unterhalb des Bauches zuging ... tut mir leid, solche unvorteilhaften Beschreibungen machen zu müssen, es werden noch unvorteilhaftere folgen, weil sie erst den Willen zur Veränderung wirklich erklären: woher die schöne Musik kommt, woher die Sehnsucht kommt, woher es kommt, dass traurige Geschichten und traurige Melodien Mut machen zu etwas Neuem. Aber noch war es nicht soweit, dass er mir was Ermutigendes erzählen konnte, "tja, ich bin Lehrer geworden," meinte er, "aber nur ein halber Job, auf die Art hab ich viel Ferien, wo ich auf Reisen bin in Afrika oder Kuba ... aber nur wegen der Musik," meint er sich entschuldigen zu müssen, weil ihn das Politische nicht so interessiere. "Mein Sohn war mehr politisch drauf," und offenbar will er eigentlich von etwas sprechen, das ihm hart auf dem Herzen liegt.

"Wieso war?"

"Ich les manchmal eure Zeitung, die CONTRASTE, aber es ist ja doch nicht so, auch nicht bei uns Alternativen, dass alles so toll ist. Eigentlich haben wir dieselben Probleme wie Vereinsamung und Ängste wie überall in der Gesellschaft," und dann ohne Überleitung, fast in einem Atemzug, "die haben das erst nach drei Tagen gemerkt, als die Vögel durch sein Fenster ein und aus flogen."

"Wie ... gemerkt?" versuche ich ihn durch eine unbeholfene Formulierung meiner Frage in seinen unzusammenhängenden Gedanken nicht zu irritieren.

"Er hat sich aufgehängt! Und das hat keiner gemerkt in der Kommune, keiner hat ihn vermisst. Er hat auch einen Abschiedbrief hinterlassen, er hat immer alles politisch gedacht. Er war ein verschlossener Mensch, wie ein Wolf war er, wirklich wie der Steppenwolf von Hesse, er hat auch mit mir wenig geredet, aber er wusste genau, was er wollte." Während er spricht, sieht er mich nicht an, was der Situation den Anschein von etwas Nebensächlichem gibt, und ich vermeide es auch ihn anzusehen. Eigentlich ist mir nicht klar, wovor ich ausweiche, ihm oder seiner Geschichte, oder der Tatsache, dass es trotz aller vernünftigen Erklärungsversuche so etwas Irrationales gibt.

"Und seine Mutter?" frage ich, um das unangenehme Terrain des Selbstmords zu verlassen.

"Wir sind schon lange getrennt." - Natürlich, fällt mir ein, wie sollte es anders sein? Und er fährt fort, "Ich hab ja die Musik."

Umsonst & Draußen

Erlebnisse wie diese, und irgendwie häufen die sich - ich weiß gar nicht, ob die Welt hinter ihrer neoliberalen Fassade grausamer geworden ist, oder ob ich mir inzwischen den Luxus leiste sensibler zu werden, jedenfalls können Erlebnisse wie diese einen tatsächlich zweifeln lassen an dem Anspruch, die Gesellschaft durch Alternativen ändern zu wollen. In der frühen Zeit der Rockmusik, eigentlich in der Hochzeit der deutschen Hippies, wurden die Umsonst & Draußen-Festivals erfunden, in der hintersten Provinz, in Ostwestfalen-Lippe (kurz OWL), 1970 das erstemal, ab 1975 regelmäßig, wuchs es von 5.000 (75), 15.000, 30.000, 80.000 auf 100.000 Teilnehmer 1979, mit eigenem Radiosender, weil viele nicht bis zum Festivalgelände kamen und z.B. auf der Autobahn campierten. Die Musiker wie Embryo, Missus Beastly, Hammerfest, Ton Steine Scherben, Mathomtheater, Guru Guru wurden als Teil eines etwas größeren Freundeskreises aufgefasst, eine hippiemäßig liebevolle Alternativkultur, die in einer reaktionären Gesellschaft die berühmte Blume im Beton war. Apropos Beton, auch darum ging es: die Kommerzialisierung der Musik durch stacheldrahtgeschützte Großveranstaltungen mit Schlägertrupps und Abzocke zu verhindern (z.B. das Pearl Jam-Massaker letzten Sommer, siehe Flugblattausriss), und die Ausbeutung der intensivsten Bereiche unseres Lebens abzuwenden, wo wir stattdessen phantasievoll, frei und kreativ sein und verwirklichen wollten, was man sonst nur träumt. Die Idee der U&D-Festivals wurde weithin aufgegriffen und heute gibt es jeden Sommer eine ganze Reihe davon, bis nach Würzburg hinunter (www.vlotho-online.de/festival).

Aber das Hauptproblem auch der alternativen Festivals ist die klare Trennung zwischen Bühne und Wiese, zwischen Musikproduzenten und Musikkonsumenten, die autoritäre Grundstruktur aller Rockmusik seit ihrer Erfindung, dass eine Menschenmenge sich auf einen Punkt auf der Bühne konzentriert, dass sie aufschauen muss und bei Festivals sogar tagelang in dieser anbetenden Haltung verharren muss. Das führt dazu, dass die Musiker anders als geplant doch nicht mehr ein Teil von uns sind, sondern elitär werden und abheben, dass sie den Starkult verinnerlichen und auch, wenn sie unbekannt bleiben, das Starsein als einzige Perspektive sehen. Deshalb muss der Bühnenzentralismus beseitigt werden, oder zumindest müssen Alternativen geschaffen werden. Die Musiker müssen zu uns gehören und wir zu ihnen, insbesondere muss das unsolidarische Verhalten ein Ende finden, dass Künstler nur zu ihrem eigenen Auftritt angeritten kommen, die Show abziehn und gleich verschwinden, statt die Musik der andern anzuhören, statt über den Platz zu laufen und einfach teilzuhaben, vielleicht die kennenzulernen, die ihre Musik besonders mögen, und für das Gelingen des ganzes Projekts mitzuwirken.

Kultur von unten

Deswegen haben wir uns gedacht (wir: einige Freunde) noch weiter unten anzufangen, sozusagen auf der Wiese, keine Bühne mehr, Kunst in Augenhöhe mit den Leuten zu produzieren, Musik, Bilder, Worte, Workshops, Aktionen, was einem eben so einfällt. Konkret haben wir auf dem letzten U&D in Vlotho ein Künstlerdorf aus Zelten aufgebaut, mitten überm Platz ein Fallschirm, eine Gemäldeausstellung in zwei Zelten, nette Beleuchtung, eine Teestube, Infostand und noch einiges mehr, was gut rübergekommen ist. Eine Besucherin: "Ich bin erst eine Stunde auf dem Festival, und die ganze Zeit steh ich vor diesem Bild und kuck es mir an, entdecke immer was Neues ..." - das war eine der Alltagsmüll-Collagen von Ute, mit denen eine neue Perspektive für die Ästhetik dessen, was sonst achtlos vermüllt wird, gegeben werden sollte. In einem Workshop war die Möglichkeit Abfall sinnvoll zu verwenden, z.B. zu einer Schrottskulptur als Mobile für ökologisches Gleichgewicht. Bernado creierte die Müllmusik, der Hit für absolute Kenner, die immer auf der Suche nach neuen Klängen sind. Und so ist das auch jetzt wieder gedacht: provokativ und künstlerisch, mit inhaltlichen Aussagen und doch mit Schönheit.

So etwas und noch viel mehr soll diesen Sommer passieren: ein reisendes Künstlerdorf, jedes Wochenende woanders, natürlich in Absprache mit den jeweiligen Veranstaltern, mit Zelten, klapperigen Bussen, Bauwägen, BSE-freie Veganküche, und vielen Leuten, die Lust haben mitzumachen mit Wort, Bild, Ton und hilfreichen Händen ... ihr seid gesucht! Kontakt leider nur elektronisch über mich (Herrmann) packpapier.verlag@t-online.de oder auf der Homepage www.packpapier-verlag.de den Button suchen "Festivalkultur 2001 - leben statt im Falschen".

Übrigens gab mir jener Musiker, dem ich mal ein Buch verehrt hatte (ich erinnere mich jetzt, er war damals mittellos), noch den Termin für seinen eigenen Auftritt, "Ich spiele lauter verschiedene Instrumente," er lächelte weich, ich glaub sogar schüchtern, "wenn man die Marimbas, Djembes oder Congas auf die Bühne bringt, holt das gleich ein Stück Karibik unter unsern dunklen Himmel," oder zitieren wir mal Harry Mulisch über Kuba: "der Himmel verausgabt sich in einem Farbenrausch, wie er in Europa nur von einem geistesgestörten Beleuchtungstechniker erfunden werden könnte, der deswegen sofort entlassen würde." Spät in der Nacht als letzte Gruppe war sein Auftritt auf der kleinen Bühne, die Klangfiguren erinnern an die Latinowelle im Sommer 99, eine Ahnung vom Buena Vista Social Club ohne Gesang. Allerdings wer viel Musik hört, registriert die weniger glatten Bezüge zur frühen afrospanischen Musik, es klingt weit weg, musikalischer Internationalismus, aber ohne die geringschätzige Attitüde, wie so was sonst in kommerzielle Weltmusik eingebaut wird, kein glatter Import, sondern wie man vorsichtig die Hand zu jemand ausstreckt. Und eine Unsicherheit ist bei allem musikalischen Können hörbar, oder ja, es ist die Schüchternheit, wie er offenbar niemanden und auch die kubanische Musik nicht vereinnahmt. Jetzt verstehe ich, was er damit meinte, es sei gar nicht so, wie wir uns das von alternativen Projekten, Kommunen und Politaktionen so hübsch denken, offenbar gibt es noch eine menschliche Dimension, die keinem Befreiungsplan folgt, keinem rationalen Hauruck, die nur lächelnd rüberkommt, schüchtern die Hand ausstreckt, eine Utopie des Gefühls ...

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008