Contite1.jpg (10220 Byte)

CONTRASTE IM MÄRZ 2013: Selbstbestimmt arbeiten · Interview mit Frigga Haug - Kompass für die politische Praxis: Die Vier-in-einem-Perspektive · Recht auf Arbeit? - Das Ganze des Lebens · Offenes Technologie-Labor: Neue Arbeit - Neue Kultur = OTELO · Parecon versus Peer-Produktion - Michael Albert: Beschreibung von Parecon - Christian Siefkes: Meine Zweifel an Parecon · Gedanken zu Wertewandel und Grundeinkommen - Von der Arbeit und Leistung  zu Freiwilligkeit und Füllebewusstsein +++ Breite Solidarität gegen Zwangsräumung in Berlin-Kreuzberg: "Die Häuser denen, die drin wohnen" +++ elis.corner: Körperliche Arbeit +++ 8. Stuttgart Open Fair - Endstation: Alle einsteigen! · Gründungskonvent zum BürgerInnenparlament: Rückbesinnung auf die "res publica" +++ Libertäre Bildung als Kristallisationspunkt für AktivistInnen, Theorie-Orientierte, pragmatische UtopistInnen und Betroffene: Gemeinsam radikaler hinterfragen +++ Netzwerk News: Zu viel vom Schlechten - Herrschaftskritik aus linksradikaler Sicht +++ Herrschaftsfreie Ökonomie: Geld und Eigentum abschaffen! - ... und warum das noch lange nicht reicht! +++ Sich gegenseitig unterstützen - Herrschaftsverhältnisse aufkündigen, Teil 2: Sabotage im Alltag +++ Politikwissenschaft: Fachbuch zur Piratenpartei  +++ Ticker Repression und Rechtsfälle +++ Kritik der vereinfachten Welterklärungen (den Kopf entlasten - Teil 5) Gesammelte Beispiele - "Verschwörungstheorien"  vorgestellt +++ Bürgerenergie Berlin eG: Regional - erneuerbar - bürgereigen - Genossenschaft will das Stromnetz der Hauptstadt in Bürgerhand organisieren · Bürgerenergiegenossenschaft Wolfhagen eG: Genossenschaftliches Vorzeigemodell auf gutem Weg - Stadtwerkebeteiligung wird realisiert +++ u.v.m.

Monatszeitung für Selbstorganisation

 

Home Nach oben Bestellungen

CONTRASTE

Aus CONTRASTE Nr. 261 (Juni 2006)

PORTRAIT:

Villa Locomuna

Wir sind eine Lebensgemeinschaft von derzeit zwanzig Erwachsenen im Alter zwischen 23 und 67 Jahren sowie zwölf Kindern mitten in Kassel. Im Dezember 2000 zogen die ersten Menschen in den ehemals zu Ausbildungszwecken von der Bahn genutzten Gebäudekomplex am Kasseler Tannenwäldchen ein, um gemeinsam eine Lebensform jenseits von Kleinfamilie und Singlewohnen zu entwickeln. Dieser Ort bietet Platz zum Wohnen, Lebensraum für die Kinder, Gemeinschaftsräume und einen Standort zum Arbeiten.

Villa Locomuna, Kassel - Wir wollen mit Menschen zusammenleben, die ein Leben in Gemeinschaft für sich als Chance begreifen, selbst und gemeinsam mit anderen zu wachsen. Um dies erreichen zu können treffen wir uns wöchentlich zu einem Forum für den Austausch auf der persönlichen, emotionalen Ebene. Ergänzend greifen wir weitere Kommunikationsansätze, wie z.B. Gewaltfreie Kommunikation auf. Unsere Ziele dabei sind ein achtsamer Umgang miteinander, gegenseitige Unterstützung in persönlichen Entwicklungen, ein konstruktiver Umgang mit der Verschiedenheit unserer Bedürfnisse und Charaktere, die Unterstützung des Konsensfindungsprozesses sowie die Vorbeugung und Bewältigung von Konflikten.


Villa Locomuna 2006

Für die eher sachlichen und organisatorischen Belange treffen wir uns alle zwei Wochen zum Plenum. Entscheidungen, die die Gruppe als Ganzes betreffen, werden von uns im Konsens beschlossen. Bei größeren Themen oder weitreichenderen Entscheidungen werden diese in Kleingruppen vorbereitet, ehe sie im Plenum verabschiedet werden. Rund dreimal im Jahr findet eine Intensivzeit statt, in der wir uns ein Wochenende lang Zeit nehmen und einen für uns relevanten Themenbereich vertiefend diskutieren und bearbeiten.

Wir experimentieren mit alternativen Lebens- und Beziehungsformen jenseits der abgeschlossenen Kleinfamilie und der exklusiven Zweierbeziehung. Wir ermöglichen unseren Kindern die eigenständige Aufnahme vielfältiger sozialer Kontakte untereinander und zu Erwachsenen auch unabhängig von biologischer Verwandtschaft. Wir versuchen traditionelle Geschlechterrollen praktisch zu überwinden.

Solidarische Ökonomie & Arbeitsbereiche

Wir erproben verschiedene Formen des solidarischen Wirtschaftens. Die Leitlinien an denen wir uns dabei orientieren, sind das Bedürfnisprinzip, der soziale Ausgleich unterschiedlicher Verdienstmöglichkeiten und eine Wertschätzung unbezahlter Arbeit.

In unserer Gruppe treffen unterschiedliche Erfahrungen, Kompetenzen und Qualifikationen aufeinander. Entsprechend vielfältig sind auch unsere beruflichen Zugänge, denen wir z.T. als Angestellte nachgehen, teilweise sind wir selbständig tätig oder eben sowohl als auch. Viele von uns haben den Wunsch, ihrer Arbeit auf dem Gelände des Projektes nachgehen zu können, und somit Leben, Wohnen und Arbeiten zu verbinden. Folgende Arbeitsbereiche sind bereits auf dem Gelände etabliert:

* Arbeit am Tonfeld * Case-Bau * Dolmetschen und Übersetzen * Fotografie und Film * Grafik und Webdesign * Kundalini-Yoga * Reiseveranstalter * Rolfing-Praxis * Spielgruppe für Kinder

Ressourcensparendes Wohnen

Wir bemühen uns neben einer sozialen und ökonomischen auch um eine ökologisch nachhaltige Lebensweise, was insbesondere einen verantwortungsvollen Umgang mit Energie und Ressourcen im Bereich des Wohnens und der Mobilität beinhaltet. So wurde das "Bettenhaus", ein Kubus aus den 60er Jahren, im Jahr 2003 mit einer Außendämmung versehen, es wurden dort neue Fenster eingebaut und eine neue Heizungsanlage samt Blockheizkraftwerk installiert. Für diese Maßnahme wurden wir als gelungenes Beispiel im Best-Practice-Archiv für energiesparendes und klimaschonendes Bauen aufgenommen. Ende 2005 wurde ferner auf dem Kubus eine Photovoltaikanlage installiert, mit der wir bei typischen Kasseler Wetterverhältnissen jährlich rund 5.200 kWh Strom erzeugen können.

Ort der Begegnung

Der Gebäudekomplex samt Freifläche dient nicht nur uns zum Wohnen und Arbeiten, sondern bietet zugleich auch einen hervorragenden Ort für Begegnungen aller Art. So ist im älteren Gebäudeteil, der so genannten "Villa", ein Spielzimmer eingerichtet, das vormittags von einer Kindergruppe im Vor-Kindergarten-Alter genutzt wird und sonst von unseren eigenen Kindern und deren Freunden und Freundinnen. Auch die Außenanlagen sowie die Nähe zum Tannenwäldchen eignen sich ausgezeichnet für Angebote an Kinder.

Die zentrale Lage Kassels und unsere gute Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln machen den Ort auch attraktiv für Gastgruppen, die sich bei uns einmieten und unsere Gemeinschaftsräume nutzen, um ihre Veranstaltungen durchzuführen. Nicht zuletzt hat in unserem großen Saal mit direktem Zugang zum Garten schon die eine oder andere Feierlichkeit stattgefunden.

bus und mehr

"bus und mehr" ist ein kleiner Reiseveranstalter, der in der Villa Locomuna angesiedelt ist, und mit dem wir den Gemeinschaftsgedanken breiter in die Öffentlichkeit tragen möchten. Hierzu bieten wir jeweils 15 bis 20 interessierten Menschen vierzehntägige Seminare über alternative Lebensentwürfe an, in deren Rahmen wir Kommunen und Lebensgemeinschaften besuchen, um damit die Projekte selber, deren Strukturen, die Menschen, die darin leben, und deren Ideen kennen lernen zu können.

Weitere Infos unter www.kommunetour.de

Info: Villa Locomuna, Kölnische Str. 183, D-34119 Kassel Tel. (05 61) 92 00 94 90, Fax. 920 09 49 59 www.villa-locomuna.de 

EIN PERSÖNLICHER BLICK

5 Jahre Villa Locomuna


Wohnhaus und Villa

Erstmals getroffen haben wir uns bei einem "Los Geht's" in Niederkaufungen. Jemand hatte die Villa entdeckt und wir standen schon so gut wie vor der Tür. Ein halbes Jahr der ersten Klärungen, der Gruppenfindung, der Geldsuche, der Absprachen, des Versuchens und Scheiterns, des Erkunden von Grenzen stand vor uns, bevor wir dann im Dezember 2000 die Tür aufmachen durften. Die erste von vielen. Im ersten Monat waren wir drei Personen und dann trudelten die Menschen ein und mittlerweile sind wir voll oder fast voll. Je nachdem, wen man fragt.

von Steffen Andreae, Villa Locomuna - Wir haben von Beginn an einen großen Schwerpunkt gelegt auf die Kommunikation in der Gruppe. Einmal in der Woche trafen wir uns zum Forum, welches wir schon vor Kommunegründung in einem Seminar im ZEGG gelernt hatten. Mittlerweile haben wir es "locomunisiert", also unseren Bedürfnissen und Fähigkeiten angepasst. So verändern wir alle Methoden, die wir uns mittlerweile angesehen haben, sei es Beschäftigung mit Biographien, Gewaltfreie Kommunikation oder Radikale Therapie. Wir haben methodisch eine PatchworkKommunikation und damit geht es uns gut. Das hat uns nicht grundsätzlich vor großen Konflikten bewahrt und letztendlich auch nicht vor ein paar Leichen im Keller. Aber dennoch: Wir machen das richtig gut und die Regelmäßigkeit des Forums ist unser größter Schatz. Fünf Jahre Villa Locomuna bedeutet weit über 200 Abende enger und intensiver Austausch mit den Menschen.

Die Finanzierung einer Kommune, zumal wir sie über die Bank finanziert haben, ist natürlich immer wieder ein Punkt zur Sorge. Und wenn dann plötzlich drei oder vier KommunardInnen ausziehen, dann sehen manche schnell dunkle Wolken am Horizont. Vielleicht auch, weil sie wirklich da sind. Und andere sehen weiterhin die Chancen und die Möglichkeiten, weil diese eben auch da sind. So haben wir hier Skeptiker und Utopistinnen, Sorgen tragende, Sorgen teilende und sorgenlose Menschen. Wir haben Nörglerinnen und Mutmacher. Es leben hier Menschen, denen alles zu schnell geht, die ständig geschoben und gezogen werden, was sich nicht gut anfühlt. Und wir haben Menschen hier, die ziehen und die schnell sind und die sich ständig ausgebremst fühlen. Der Spagat des Miteinanders tut manchmal weh und zeigt doch auch oft seine Stärke und Kraft.

Heute haben wir ein gedämmtes Haus, schöne Fenster mit mehr als nur einer Scheibe, eine Solaranlage auf dem Dach und im Keller ein kleines Blockheizkraftwerk, die Umstellung auf Bioöl ist in Vorbereitung und manche sehen schon die Rapsöltanke vor dem Haus stehen. Am Anfang hatten wir langweilige Flure und braune Türen, leere Zimmer an deren Decken sich die Tapete löste, dünne Scheiben und Fenster, die nicht richtig zu schließen waren. Das Treppenhaus hatte eine hässliche gelbliche Farbe und in der alten Villa waren aus den schönen großen Räumen funktionale Schulräume geworden, denn die Villa war von der letzten Besitzerin, der Bahn, zu Schulungszwecken benutzt worden.

Nach zweieinhalb Jahren haben wir uns für ein Wochenende vom Haus verabschiedet und an unserem Selbstverständnispapier gearbeitet. Ein schöner, ein schwerer Prozess. Manche fanden sich danach nicht mehr wieder und sind (auch) deshalb gegangen, andere konnten sich mehr auf die Gruppe einlassen. Ein solches Papier vorab zu haben, hat wohl viele Vorteile. Aber es erst - sozusagen nach einem Alltagstest - aufzuschreiben, das Papier also sich selbst inhaltlich vorzuleben, das führt auch zu einer Stimmigkeit und - auch wenn in den nächsten Jahren eine Überprüfung ansteht - die Übereinstimmung mit dem Realen ist (für die meisten jedenfalls) gegeben.

Wie in vielleicht allen Gruppen gab es auch bei uns Macher und Macker, Antreiber und Unermüdliche. Das Phänomen "Hierarchien in Gruppenfindungsprozessen" ist sicherlich schon vielfach beschrieben worden und auch wir könnten ein Kapitel dazu schreiben. Für mich gab es in den ersten drei Jahren drei Personen, die mehr die Entwicklung und das Entstehen des Projektes im Auge hatten und sich weniger als andere mit langsameren Gruppenfindungsprozessen auseinander gesetzt haben. Ich denke, dass dies gut war, und Fakt ist nun einmal, dass es diese Kommune gibt und dass wir komplett sind. Wobei hier natürlich auch gesagt werden muss, dass eine Stadtkommune tendenziell sicherlich weniger Probleme mit dem Finden von neuen KommunardInnen hat als ein Landprojekt.

Dass von diesen drei Personen die eine im dritten Jahr ausstieg und sich erst einmal dem Projekt "Kleinfamilie" näherte, dass die anderen beiden im vierten Jahr eine halbjährige und eine ganzjährige Auszeit nahmen und dann wieder zurückkamen, halte ich für sinnvoll und denke darüber nach, ob dies nicht anderen Projekten empfohlen werden sollte. Die Zugkraft zu Beginn sehe ich sehr positiv. Dass sich dann die, die antreiben, zurückziehen und die anderen die Kompetenzen, die Rollen, die Hierarchien neu verteilen und strukturieren, das hat zu einer Stabilisierung des Projektes geführt, da mehr und mehr Schultern Verantwortung übernommen haben.

Die letzten fünf Jahre waren ein wunderschönes Erlebnis. Trotz allem und deswegen. Ob ich es noch mal wagen würde? Ich weiß es nicht, aber ich ermuntere jedeN, diesen Weg zu gehen. Eine andere Welt ist nicht nur möglich - es gibt sie schon. 

 

Home ] Nach oben ]

Senden Sie E-Mail mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: CONTRASTE
Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008