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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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CONTRASTE

Aus CONTRASTE Nr. 242 (November 2004)

ZEIT IST GELD?

Aus mit Tausch

In der politischen Kommuneszene gibt es derzeit
Bestrebungen, eine gemeinsame Grundsatzerklärung
zu den für uns relevanten Themen zu verfassen.
Ich hege die Hoffnung, diese nimmt eine deutlich
antikapitalistische Haltung ein. Denn mit dem
Kapitalismus leistet sich die "Moderne" ein so
grausames wie groteskes Wirtschaftssystem. Frauen
wären übrigens niemals auf die Idee gekommen, ihn
ins Leben zu rufen. Er züchtet Verwertungssucht und
Konkurrenzgier, Rechthaberei und Größenwahn - und
damit Krieg. Der Kapitalismus ist zu keiner Zeit und
auf keiner Ebene eine zivile Gesellschaft gewesen.

von Henner Reitmeier, Kommune Olgashof - Nicht deutlich antikapitalistisch sind reformistische Positionen. Wenn sich der Kapitalismus trotz seiner extremen Krisenanfälligkeit schon mindestens 250 Jahre lang halten konnte, verdankt er es zu ungefähr 90 Prozent dem Wirken des Reformismus. Zu den großen Reformisten Deutschlands zählen beispielsweise Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, dessen Gegenspieler Walter Ulbricht, Joschka Fischer. Oskar Lafontaine und Sara Wagenknecht strecken sich noch. 

Reformismus und revolutionärer Weg scheiden sich etwa in den wichtigen Fragen der Machteroberung und der Stellvertretung. Da die Macht - selbst in Anteilen - nicht ohne ihre Untugend zu haben ist, gehen Revolutionäre den Weg der Selbstorganisation. Sie unterlaufen die Macht, um sie früher oder später überflüssig zu machen. Dies alles nehmen sie öffentlich, transparent, nachvollziehbar vor. Letztlich heißt Selbstorganisation, nicht nur den Staat und die Parteien sondern die Politik überhaupt abzuschaffen.

Den wichtigsten Prüfstein für Revolutionäre stellt meines Erachtens die Wertform dar. Während sich Reformisten begeistert bis zähneknirschend mit ihr arrangieren, wird sie von Revolutionären konsequent abgelehnt. Die Gründe dafür will ich im folgenden versuchen, zu umreißen. 

Kapitalismus ist Warenproduktion. Die Güter werden nicht der entsprechenden Bedürfnisse wegen hergestellt, sondern um sie auf dem Markt zu erlösen, um also Geld und Profit mit ihnen zu machen. Gehen Kinderbücher schlecht, mach' ich vielleicht elektrische Stühle. Fehlen lukrative Bedürfnisse, erfinde ich sie. Den Warenwert - der sich in Geld niederschlägt - fechten diese Unterschiede nicht an.

Reformisten haken an dieser Stelle gern mit der Behauptung ein, das Geld sei leider unverzichtbar, weil wir sonst nicht tauschen könnten. Wahrscheinlich haben sie sogar recht. Ist aber die Tauschwirtschaft unverzichtbar? In den frühen Horden, Sippen, Stämmen unserer Gattung wurde mit Sicherheit nicht getauscht. Einer idealen Landkommune unserer Szene leuchtet die Angelegenheit leicht ein: wir müssen lediglich voraussetzen, sie sei autark. Warum sollten die Leute dann noch tauschen? Schließlich ist alles da - vom Radieschen über Ziegen und Gehölze bis zum ovalen Esstisch. Es muss nur bearbeitet, organisiert, verteilt werden. Was täglich oder saisonal benötigt wird, ist bekannt oder wird vereinbart. In einer solchen gemeinschaftlichen und geschlossenen Ökonomie wäre Tausch beinahe lächerlich.

Ich bemerke nur am Rande, dass die kapitalistische Not des Tauschens und Verkaufens ungeheuerliche Kosten verursacht, die volkswirtschaftlich betrachtet, einen nicht minder ungeheuren Verlust darstellen: Handel, Buchführung, Banken, Notendruck, Geldautomaten und so weiter. Der wesentliche Nachteil liegt im Tausch selber, der ein Vergleich ist. Denn dieses Vergleichen hat verheerende Folgen.

Wollen wir voneinander verschiedene Güter oder Leistungen miteinander vergleichen, kommen wir ja nicht umhin, sie auf etwas zu reduzieren, das ihnen vielleicht doch - ihrer Verschiedenheit zum Trotz - gemeinsam ist. Wie Marx herausfand, kann diese Gemeinsamkeit von Esstisch, Ziege, Text nicht in Eigenschaften wie nützlich, angenehm, schön, lebendig, dinghaft und dergleichen liegen. Denn das lässt sich nicht messen. Die Warenproduktion, die vom Tausch lebt, bedarf eines Zollstockes. Sie muss Tische, Ziegen, Texte über einen Kamm scheren. Hier bietet sich lediglich der Umstand an, dass sie alle hergestellt, besorgt und zugerichtet worden sind: durch "Arbeit". Allerdings handelt es sich eigentlich um völlig verschiedene Arbeiten, so dass auch sie noch einmal reduziert werden müssen, nämlich auf "Zeit", auf "Arbeitszeit" also. Im Gegensatz zu Ahornholz/ Futterklee/ Papier lassen sich allein diese in Esstisch, Ziege / Text investierten Zeitquanten miteinander vergleichen.

Fragen wir uns jedoch, was "die Zeit" sei, machen wir ein langes Gesicht. Sie ist etwas völlig Abstraktes, Seelenloses. Sie ist ein Hirngespinst. Jedes Gut, jede Leistung, jeder Mensch haben ihre eigene Zeit. Sie ist unvergleichlich. Sie haben auch alle ihren eigenen Wert. Sie entfalten sich gemäss ihres inneren, einmaligen, kaum nachvollziehbaren Gesetzes. Sobald ihnen Tauschwert zugemessen wird, stecken sie in einer Zwangsjacke. Dann dürsten sie nur noch nach Geld. Von sich aus gelten sie ja nichts; nur messbare Anerkennung zählt. Der rennen sie hinterher - getreu dem sattsam bekannten Motto "Zeit ist Geld." Allein diese Begierde nach Geld oder dieses Angewiesensein auf Geld lässt die Menschen im Kapitalismus zueinander in Beziehung treten. Damit wird "Gesellschaftlichkeit" maßgeblich durch völlig abstrakte und letztlich lebensfeindliche Dinge oder Zwecke vermittelt.

Anders ausgedrückt, haben wir mit der kapitalistischen Warenproduktion eine Züchterin quantitativen Denkens am Hals. Gegen dieses Denken ist so gut wie niemand gefeit. Auch in unseren Kommunen macht ein großer roter Mercedes mehr her als irgendein verrosteter klappriger Kleinwagen. Manche Anarchisten besäßen gerne einen Colt, um dessen Griff mit den Kerben ihre sexuellen Eroberungen verzieren zu können. Rennt Lieschen schneller als Moritz zum Hoftor, wo das Postauto hupt, hat sie sich schon ein Schokoladenbonbon verdient. Was ist der sehnlichste Wunsch von Pavel aus dem Buch Die ROTE ZORA, das in keiner linken Kommune fehlt? Er möchte zunächst Lehrbub des Bäckers Curcin, dann jedoch der "stärkste Mann von Senj" werden. Moritz dagegen hat den Lokomotivführer angepeilt. Entsprechend spielt er leidenschaftlich gern "Eisenbahnquartett", und zwar in der Form des Schlagabtausches zwischen zwei Leuten. Dabei kommt es ausschließlich auf das Mehr an - wer hat mehr PS, Meter, Tonnen, Wert oder sonst was anzubieten. Warum die Lokomotive fährt, wohin sie fährt - was dies alles soll und mit sich bringt, wird um keinen Deut erwogen. Diese Lokomotiven transportieren allein den Fetisch Wachstum - Größe pur um jeden Preis.

Nur ein quantitatives Denken kann "Geschwindigkeit" zu einer Tugend erheben, von der noch die größten Idioten geadelt werden. Auch Computerprogramme und Internetanschluss - durch die ständige Modernisierung und durch ständige Pannen viel kostspieliger als Handarbeit - gewähren uns "schnellen Zugriff" auf dies oder das. Wir spüren nicht mehr, dass dabei die Zusammenhänge reißen. Diese "Zeit", die der Kapitalismus meint, weil sie ihm den unbestechlichen Gradmesser gibt, kennt kein Erbarmen. Von wegen "Wachstum"! Sie nimmt gerade keine Rücksicht auf Tomaten, Kinder, Texte, die sich behutsam entfalten möchten. Und auch nicht auf etwas, das ich einmal kurz und klassisch Lektüre nenne. Möglicherweise ist die Lektüre inzwischen das Einzige, das nicht für Geld zu haben ist.

Das tauschlose Verfahren, das ich oben am Beispiel einer autarken Landkommune angedeutet habe, ist selbstverständlich auch für ein Netz aus Kommunen, für Regionen und sogar ganze Kontinente denkbar. Es bedarf "lediglich" des entsprechend verbreiterten Bewusstseinsverstandes, an dem wir paar Kommunen hartnäckig arbeiten. In logistischer Hinsicht kann sicherlich auch der Computer nützlich sein, falls es gelingt, dieses Medium maßvoller zu verwenden als beispielweise Gewehre, Autos, Filmkameras. Doch Geld benötigen wir nicht.

Deshalb kann ich über die jüngste Mode in alternativen Kreisen, nämlich allerlei Ersatzgeld vorzuschlagen und einzuführen, nur den Kopf schütteln. Das sind echte reformistische Programme, die so aufwendig wie abwegig sind. Statt an der Wertform zu rütteln, bekräftigen sie diese noch. Dass wir auf geraume Zeit hin auch in unseren alternativen Netzwerken nicht umhin kommen, zumindest teilweise Werte zu verrechnen, ist natürlich klar. Aber dazu brauchen wir den Teufel Euro nicht mit dem Belzebub XYZ auszutreiben. Stürzen oder schieben wir lieber den
Kapitalismus ins Höllengrab.!

Aus CONTRASTE Nr. 242 (November 2004)

AUSWEGE AUS DER KRISE:

Die große Fragestunde?

Überlegungen von Uwe Kurzbein, Olgashof - Wir sollten nicht die Fragen wiederholen, die als Sprechblasen von den Vertretern dieses Systems immer wieder ertönen: Arbeitsplätze? Lehrstellen? Inlandnachfrage? Wachstum! Standort Deutschland! Bildungsnotstand? Verlängerung der Arbeitslebenszeit, der Wochenarbeitszeit, Kürzung des Urlaubs, Kürzung der Subventionen? Mitnahmeeffekt? Rente?

Stellen wir die Fragen anders!

Nicht, wie bekomme ich eine Arbeit, sondern was brauche ich eigentlich zum Leben und zum Glücklichsein. Brauche ich Wachstum? Brauche ich mehr Konsum, eine neue Möbelgarnitur oder ein neues Auto? Bin ich in meiner Familie überhaupt glücklich? Habe ich mir das Leben so gedacht, wie es sich eingestellt hat? Sollen meine Kinder überhaupt das lernen, was sie lernen, oder könnten sie etwas ganz anderes lernen? Wieso müssen wir immer die Weltbesten sein? Wie wird Arbeit belohnt? Was ist eigentlich Arbeit? Wer bestimmt, was Arbeit ist? Ist wirklich alles Arbeit, was wir machen? Was macht eigentlich den Wert eines Gegenstandes aus? Hat er überhaupt einen Wert? Was gehört eigentlich mir, und was kann ich nur besitzen? Wie will ich leben? Will ich leben?

Lässt sich überhaupt in diesem Staat etwas anderes entwickeln? Oder sind wir auf Gedeih und Verderb diesem System ausgeliefert? Was geben wir auf, wenn wir ein neues Experiment wagen? Wie könnte es aussehen? Unsere Vision von der Utopie?

Warum fangen wir nicht gleich an?

Wie der Kapitalismus der sogenannten Postmoderne funktioniert, wie sich die Wirtschaftssysteme entwickelt haben, muss ich an dieser Stelle nicht beschreiben, dass können die Leute z.B. aus der Krisisgruppe, die sich den ganzen Tag damit beschäftigen, wesentlich besser. Der Laden ist so marode, dass die BRD umgegraben werden müsste wie ein Kartoffelacker.

Das Beschreiben dieser Misere führt jedoch nicht weiter, wenn wir nicht dahin kommen, uns an die eingangs plakativ aufgelisteten Fragen zu machen. Die Beantwortung dieser Fragen kann zu vielen völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Sie scheinen sich jedoch in der wichtigen Erkenntnis zu treffen, dass die Auswege aus diesem Dilemma in erster Linie in der Schaffung von Lebensmodellen jenseits dieses gesellschaftlichen Systems liegen : "Eine Kritik an der kapitalistischen Zumutung kann deswegen nur eine Perspektive gewinnen, wenn sie einen Standpunkt außerhalb der warenförmigen Verfasstheit entwickelt...." und abschließend: "das Gegenteil prekärer und irregulärer Arbeitsverhältnisse sind deswegen nicht reguläre, sonder gar keine." ( Karl-Heinz Lewed - Jungle World 28/2004, autorisierte Form:
(www.giga.or.at/others/krisis/k-h-lewed_keine-stattprekaere-arbeit.html).

Es lässt sich nur etwas Neues entwickeln, wenn wir zumindest ansatzweise die bürgerlichen Strukturen verlassen. In der abhängigen Maloche zu bleiben, verhindert neue Lebenszusammenhänge. In der Zweierbeziehung zu bleiben, verhindert Konfliktlösungen zu entwickeln und in der Mietwohnung zu bleiben verhindert, sich praktisch mit Eigentum an Grund und Boden oder an den Produktionsmitteln auseinander zusetzen.

Ich könnte sagen, dass wir schon da sind und in solchen Enklaven seit mehr als 20 Jahren das ausprobieren, was langsam Erkenntnis wird. Nur sind wir nicht als Theoretiker, sondern als Praktiker am Werke. Und genau das sei allen empfohlen, die sich Gedanken um sinnvolle Modelle machen. Nicht als Vergleich oder als Alternative gedacht, sondern als die Botschaft: "Aussteigen, wenn du sinnvoll leben willst."

Es mag sicherlich zynisch oder elitär sein, jemandem der jahrelang arbeitslos gewesen ist, zu empfehlen, die Jagd nach einer bezahlten Arbeit aufzugeben. In Lohn und Brot zu stehen ist eben nicht nur Ausbeutung, sonder auch Anerkennung, soziale Achtung und bedeutet eine gewisse existenzielle Sicherheit. Aber das heißt auch Mitmachen in diesem System, das ausschließlich nach der Devise der Profitmaximierung funktioniert.

Die Verantwortung für die Entscheidung des eigenen Lebensweges muss bei jedem selbst bleiben. Aber wir können daran erinnern, dass jeder Mensch eine Wahl hat. Jeder Mensch soll nur arbeiten, wenn er es aus eigenen Willen und aus einem eigenen Verantwortungsbewusstsein heraus tut und jeder sollte das machen können, wozu er sich berufen fühlt.

Auch das Arbeiten in der Fabrik sollte frei wählbar sein. Wenn einige nicht davon lassen können, den Gewinn des Unternehmers zu erhöhen, dann bitte schön. Aber es muss auch möglich sein, einen  anderen Weg einzuschlagen.

In den Enklaven, von denen ich sage, es könnten "befreite Gebiete" sein, wenn bürgerliches Recht es zuließe, lässt sich das ausprobieren, was die Leute, die in ihnen leben, im Kopf haben. Der Inhalt dieses Experiments lässt sich nur teilweise mit alternativem Wirtschaften beschreiben. Darunter verstehe ich die Produktion und den Konsum. Auch das ist aus meiner Erfahrung nicht das Wichtigste, sondern das Miteinander, das Erlernen egalitärer Kommunikation und Konfliktlösungen. Hier sind die Themen: Frauen - Männer - Kinder - Alte, Gesundheit, Abbau von Süchten, Antirassismus, Sexismus, Rollenverteilung, Dominanzverhalten zu bearbeiten. Ich brauche nicht zu betonen, dass das harte Arbeit ist. Das Kommuneleben lässt sich nicht aufteilen. Es ist per se politisch und umfasst das gesamte Spektrum des Widerstands einerseits und der Utopie andererseits. Letztlich haben wir unser Kommunebuch unterschrieben: "Alltag zwischen Anpassung, Widerstand und gelebter Utopie". Dieses Buch ist noch zu haben. Ich kann es interessierten Menschen nur empfehlen.

In diesem Sinne.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008