POSTWACHSTUMSÖKONOMIE ALS BASIS EINER SOLIDARISCHEN ZIVILISATION
Jenseits des Wachstums?!
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Montage: Fabian Scheidler, www.counter-images.de
Als »Krise der Zivilisation« bezeichnen die
indigenen Bewegungen seit dem Weltsozialforum (WSF) 2009 im amazonischen Belem
das Zusammentreffen der Krisen von Wirtschaft, Umwelt und demokratischer
Legitimation. Aus ihrer Sicht liegen Alternativen nicht in einer erneuten
Ankurbelung der Ökonomie, sondern in einer Perspektive gegen die Vermarktung
des Lebens und die Zerstörung der Umwelt, und für das »Gute Leben« (buen
vivir), für die demokratische Kontrolle der Gemeingüter und für
Entkolonialisierung.
Von Alexis J. Passadakis und Andrea Vetter, Berlin #
In diesem Kontext betont der venezolanische Ökonom Edgardo Lander: »Die
Extraktion von Ressourcen muss radikal vermindert werden. Bereits heute wird die
Biokapazität der Erde um über 30 Prozent überschritten. « Da es aber im
Süden einen erheblichen Bedarf an sozialer Infrastruktur gebe – von Energie
über Gesundheitsdienstleistungen bis hin zu Bildung – sei eine erhebliche
Umverteilung von Nord nach Süd nötig. Fazit: Die Ökonomien des Nordens
müssen schrumpfen.
Seit einigen Jahren existiert auch in Europa wieder eine neue
Auseinandersetzung um eine Ökonomie jenseits des Wachstums. Während in
Südeuropa die Décroissance- bzw. Decrescita-Bewegungen sich stark
philosophisch orientiert auf Projekte der Solidarischen Ökonomie stützen,
entsteht in Großbritannien und Deutschland eine ökonomisch und politisch
geprägte Debatte um »Degrowth« bzw. »Postwachstumsökonomie «.
Die Diskussionen um eine Postwachstumsgesellschaft bieten dabei eine
strategische Chance, bislang getrennt geführte Diskurse und Praxisfelder unter
einer gemeinsamen Perspektive zu verknüpfen – Solidarische Ökonomie und
Gemeingüter, Post-Development- Ansätze und makro-ökonomische Konzepte in
Zusammenhang mit Wirtschaftsdemokratie etc. – und die soziale mit der
ökologischen Frage offensiv zu verbinden. Die Perspektive der lebensweltlich
orientierten Solidarischen Ökonomie liegt dabei auf alternativen kooperativen
Formen des Wirtschaftens im einzelnen Unternehmen, Wohnprojekt oder in der
Konsumgenossenschaft. Die philosophische Debatte beleuchtet insbesondere den
Verzicht (bspw. auf Natur, Ruhe, ausreichend Zeit, nicht-ökonomisierte
Beziehungen), der mit einem Leben in den heutigen Konsumgesellschaften des
globalen Nordens einhergeht; außerdem den eklatanten Mangel an
Verteilungsgerechtigkeit durch das Wachstumsmodell weltweit. Während die beiden
zuvor genannten Ansätze in sozialen Bewegungen seit langem präsent sind, sind
makroökonomische Konzepte zu einem Umbau der Wirtschaft jenseits des
Wachstumszwangs bislang kaum entwickelt. Ohne wirtschaftspolitische Konzepte und
die dazugehörigen Institutionen lässt sich eine sozial-ökologische
Transformation – unter den Bedingungen eines globalisierten
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – aber nicht gestalten.
Eine gesamtwirtschaftliche Struktur, die die Wachstumsdynamik umkehrt, ist
nicht ohne unmittelbare Eingriffe in das Räderwerk der Kapitalakkumulation zu
verwirklichen. Die Kontrolle von Investitionen, Kreditvolumen und
Entmonetarisierung von ökonomischen Kreisläufen sind dabei Mittel der Wahl.
Zugleich sind sektorale Transformationsstrategien in Verbindung mit
Einstiegsprojekten wie Energiedemokratie, kostenloser ÖPNV und ökologische,
solidarische Landwirtschaft (z.B. Community Supported Agriculture) notwendig.
Hinzu kommt eine deutliche Reduktion der insgesamt in einer Volkswirtschaft
geleisteten Lohnarbeitsstunden. Letzteres wiederum bietet eine Grundlage, von
einer ressourcenintensiven »imperialen Lebensweise« Abschied zu nehmen und die
Vorstellung des »homo oeconomicus« hinter sich zu lassen.
Eine Ökonomie jenseits des Wachstums muss allerdings nicht notwendigerweise
sozial gerecht sein. Deren Durchsetzung und Ausgestaltung ist eine Machtfrage.
Gerade in Südeuropa wird durch Sozialkahlschlag soziale Infrastruktur zerstört
und effektiv Wachstum vermindert. Eine Postwachstumsökonomie ist nur dann
solidarisch, wenn es eine Orientierung auf Umverteilung und konkrete soziale
Rechte gibt, und zwar für alle, weltweit.
Alexis J. Passadakis, Politikwissenschaftler, ist
Mitglied im Koordinierungskreis von Attac; Andrea Vetter,
Kulturwissenschaftlerin, ist aktiv bei Attac.
Schwerpunktthema Seite 7 bis 10
SCHWERPUNKTTHEMA
Solidarische Unternehmen wider den Wachstumszwang Seite
7
Wege in eine solidarische Postwachstumsökonomie Seite
7
Sand ins Getriebe der Wachstumsdynamik Seite 8
Soziale Sicherheit und Postwachstum Seite 8
Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise Seite
9
Was die Debatte um Postwachstum von feministischen Projekten lernen kann.
Veränderung üben Seite 9
Buen Vivir als Weg in eine solidarische Postwachstumsgesellschaft? Seite
10