ELEMENTE SOLIDARISCHER ÖKONOMIEN
Freiräume in Selbstverwaltung
Gründungskollektiv 1979 vor dem Hirscheneck
in Basel
Sie hatten »genug von Fremdbestimmung und
Hierarchie«, die GründerInnen der Beizengenossenschaft Hirscheneck in Basel
vor 30 Jahren. Die Kneipe gibt es noch immer, das Kollektiv hat sich bis heute
seinen Freiraum bewahrt und lädt zu einem reflektierenden
Selbstverwaltungs-Kongress ein. – In dieser Ausgabe setzen wir das Thema
»betriebliche Selbstverwaltung« vom Februar fort und legen den Schwerpunkt
diesmal auf die Auseinandersetzungen um Freiräume, die erkämpft und erhalten
werden wollen.
Peter Streiff, Redaktion Stuttgart # Die
Kongress-Einladung aus Basel mag sich für viele wie ein Gruß aus vergangenen
Zeiten anhören: »Wir möchten mit Euch der Frage nachgehen, ob denn in
selbstverwalteten Betrieben noch emanzipatorisches Potential steckt? Hat die ‘Selbstverwaltung’
den politischen Anspruch eine bessere, menschlichere Welt möglich zu machen
oder gar vorwegzunehmen?«
Immerhin stellt das Hirscheneck-Kollektiv die alten Fragen wieder
einmal in einem größeren Rahmen zur Diskussion. Der interessierte taz-Leser
oder die taz-Genossin wird sie wohl am »Tuwas- Kongress« zum 30. Geburtstag
Mitte April vergebens suchen: Die Themen Solidarische Ökonomie oder
Selbstverwaltung fehlen im Programmentwurf völlig. Der Zeitgeist in Berlin
scheint sich eher um die Auswirkungen der Finanzmarktkrise, den politisch
korrekten Klimaschutz oder schwarz-grüne Ängste zu kümmern.
Im Hirscheneck gelten wie vor 30 Jahren dieselben Grundsätze, dass es
keine/n ChefIn gibt und dass alle im Kollektiv für die gleiche Verantwortung
den gleichen Lohn erhalten. Ein wichtiger Grund, dass das »Hirschi« immer noch
kein bisschen leise ist, liegt wohl auch im strukturellen Freiraum, den sich die
GründerInnen schufen. Denn der Betrieb der Kneipe ist von der
Dachgenossenschaft, die das Haus besitzt, organisatorisch getrennt.
In Göttingen hat das »Basisdemokratische Bündnis der StudentInnen«
seinen »ersten Schritt zu einer freien Gesellschaft« vor einem Jahr hinter
sich gebracht. Mit dem erkämpften Nutzungsvertrag für das Café Autonomicum
haben sich die StudentInnen einen Freiraum »ohne Fremdbestimmung und
Hierarchie« – und damit auch ohne Konsumzwang – geschaffen. Druck von der
Straße, eine gut organisierte Besetzung und parallele Verhandlungen des Vereins
für kommunikative Freiräume waren erfolgreich: Miete muss nicht bezahlt
werden, Kaffee gibt’s gegen Spende.
»Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!« – die Geschichte der
Fabrikbesetzung in Nordhausen hatte Ende 2007 bundesweit für Aufsehen gesorgt.
Mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Aktion hatten die FahrradwerkerInnen auf
ihre gnadenlose »Platt- Sanierung« eindrucksvoll hingewiesen und die
Abwicklung nicht kampflos hingenommen. Vollkommen selbstverwaltet und ohne Chefs
produzierten sie 1.837 »Strike-Bikes«. Der Beitrag des Berliner Fahrradladens Radspannerei
beleuchtet die hektische Entwicklungsphase des neuen Fahrrads, an der die Radspannerei
aktiv beteiligt war.
Die Beispiele zeigen, dass Freiräume nur dann selbst bestimmt gestaltet
werden können, wenn die Verfügung über Produktionsmittel oder Grundstücke
durch die eigenen, kollektiv organisierten Strukturen gewährleistet ist.
Besonders relevant ist dies für Menschen, deren Lebensgrundlagen in ihren
Ländern gefährdet sind. Auf der Finca Sonador in Costa Rica haben im
Verlauf der letzten 30 Jahre 400 Flüchtlinge nicht nur Zuflucht gefunden,
sondern auch ein neues Leben aufbauen können. Voraussetzung war und ist das
gemeinschaftliche, durch Spenden finanzierte Eigentum an mittlerweile 780 Hektar
Land.
Freiräume erkämpfen steht am Anfang und ist oft notwendige Voraussetzung
für selbstverwaltetes Wirtschaften im eigenen Betrieb. Danach stellt sich die
Frage, wie der gemeinsame Alltag organisiert werden kann und welchen konkreten
Nutzen die Beteiligten aus der basisdemokratischen Gestaltung ihrer Freiräume
ziehen. Als »Werkstatt der Zusammenarbeit « hat der Oktoberdruck seinen
gelebten, 35-jährigen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit im
Februar-Schwerpunkt bezeichnet und optimistisch in die Zukunft geblickt: »Sich
damit auseinander zu setzen, was menschen- und umweltverträgliche Arbeitsformen
sind, ist unserer Meinung nach für viele, auch jüngere Leute wieder
interessant und daher auch nicht überholt.« Die Auswirkungen der
Finanzmarktkrise und die globalen Energiekrisen dürften diesen Optimismus noch
verstärken. Eine bessere, andere Welt ist möglich!
Schwerpunktthema Seite 7 bis 9
Im Mai setzen wir das Thema fort mit einem Beitrag zu den
Arbeitsbedingungen bei ambulante dienste e.V. in Berlin, einem 1981 aus den
sozialen Bewegungen gegründeten Verein für das Selbstbestimmungsrecht von
Menschen mit Behinderungen
SCHWERPUNKTTHEMA
Beizengenossenschaft Hirscheneck, Basel 30 Jahre Selbstverwaltung – und
kein bisschen leise
Seite 7
Finca Sonador, Costa Rica Freiraum für Flüchtlinge seit 30 Jahren
Seite 7
Café Autonomicum, Göttingen Erster Schritt zu einer freien
Gesellschaft
Seite 8
Radspannerei & Strike Bike, Berlin/ Nordhausen Wer sich nicht wehrt, lebt
verkehrt
Seite 9
Buchbesprechung Solidarische Ökonomie sichtbar machen
Seite 9