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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

Initiative Anders Arbeiten Mehringhof

c/o Netzwerk Selbsthilfe Gneisenaustr. 2a

10961 Berlin


Offener Brief März 2002
zur Berliner Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und PDS

Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Wowereit,
sehr geehrte Frau Senatorin Knake-Werner,
sehr geehrter Herr Senator Gysi,

mit großem Interesse haben wir uns durch Ihre Koalitionsvereinbarung gearbeitet. Insbesondere haben wir uns mit den Punkten 13. Arbeit und 14. Soziales auseinandergesetzt.

Die rot-rote Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unterscheidet sich nicht von der unsozialen rot-grünen Politik auf Bundesebene. Ausgaben für Soziales sollen eingespart werden, und ein umfangreiches Instrumentarium zur Senkung
der Sozialhilfekosten zur Anwendung kommen. Ihr Leitbild zur Arbeit:
"Existenz sichernde Erwerbsarbeit ist eine wesentliche Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Sie sichert den Einzelnen den eigenen Lebensunterhalt, schafft soziale Sicherheit und bestimmt gesellschaftliche Entwicklungschancen und soziale Anerkennung." Das klingt schön und gut,
aber es entspricht doch schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität. Ein solches Leitbild ignoriert, dass diese "Existenz sichernde Erwerbsarbeit" nicht mehr für alle möglich ist und es auch in Zukunft nicht sein wird. Aus unserer Sicht wären neue Leitbilder erforderlich, die eine Vielfalt an Lebensentwürfen und -abschnitten, auch jenseits der Erwerbsarbeit, zulassen.

Untrennbar damit verbunden ist natürlich die Frage der Existenzsicherung, wenn denn die Erwerbsarbeit dies nicht mehr in ausreichendem Maße leisten kann. Wir treten ein für eine bedingungslose Grundsicherung in Form eines 
Existenzgeldes für alle. Dahinter steckt ein anderes Leitbild als das von Ihnen im Rahmen der Durchsetzung des  Job-AQTIV-Gesetzes und auch bei der Vermittlung von SozialhilfeempfängerInnen in dauerhafte Beschäftigung
benannte "Fördern und Fordern". Denn "Fördern und Fordern" läuft in letzter Konsequenz hinaus auf "nur wer arbeitet soll essen" (auch wenn wir Ihnen persönlich solche Überzeugungen nicht unterstellen wollen). Unser Leitbild lautet statt dessen: "Jeder Mensch hat von Geburt an ein unabdingbares
Recht auf Existenzsicherung und Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Oberstes Ziel einer Gesellschaft soll es sein, dieses Recht für alle materiell zu gewährleisten."

Wir wissen natürlich, welch große Bedeutung Erwerbsarbeit für den überwiegenden Anteil der Bevölkerung heute hat, und wie sehr die meisten Erwerbslosen unter ihrer Situation leiden. Insofern sehen wir durchaus Ansätze und guten Willen in Ihrer Vereinbarung. Sehr erstaunt sind wir allerdings, dass ein "Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor (ÖBS)"
nicht einmal benannt ist. Warum hat sich die PDS so schnell von einem ihrer Lieblingskonzepte verabschiedet? Das ÖBS-Konzept sollte Beschäftigung mit soziokultureller und ökologischer Daseinsvorsorge verbinden und auf
Nachhaltigkeit angelegt sein. In den von Ihnen geplanten "Beschäftigung schaffenden Infrastrukturmaßnahmen (BSI)" hingegen werden Menschen (wie in herkömmlichen ABM auch) untertariflich und befristet eingesetzt. Für die einen mag dies immerhin eine wichtige berufliche Erfahrung darstellen, für
andere wird wertvolle Lebenszeit vergeudet, ohne dass sich an ihrer Berufsperspektive etwas verbessert. Nachhaltige Beschäftigung entsteht jedenfalls nicht.

Sehr gefreut hat uns die geplante "Gründung von Stadtteil- und
Produktivgenossenschaften". Wir hoffen sehr, dass damit endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die bisherige Benachteiligung dieser Form der selbstorganisierten Existenzsicherung aufheben. Denn noch ist es leider so, dass Menschen, die sich im Rahmen ihrer eigenen Genossenschaft ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis
schaffen möchten, weder die sonst üblichen Lohnkostenzuschüsse bekommen, noch die Existenzgründungshilfen für Unternehmensgründungen oder berufliche Selbständigkeit.

Aus aktuellem Anlass möchten wir noch unser Befremden darüber äußern, dass Ihr Kollege Herr Sarrazin die von Sparmaßnahmen betroffene Bevölkerung verhöhnt (Stichwort: Jogginganzüge) und den schlimmen finanziellen Zustand
dieser Stadt auf die mangelnde Leistungsbereitschaft der BerlinerInnen  zurückführt, wo doch jedeR weiß, einen wie großen Anteil ihrer finanziellen Probleme diese Stadt der Ausplünderung durch die Bankgesellschaft verdankt.
Aus unserer Sicht hat Herr Sarrazin sich damit als Senator für diese Stadt und ihre Bevölkerung diskreditiert. Vielleicht können Sie ihm im kollegialen "Profiling" eine Anpassungsqualifizierung anbieten, damit er lernt, mit den Problemen dieser Stadt angemessen umzugehen.

Wir werden die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung kritisch beobachten und wieder auf Sie zukommen.

Mit freundlichen Grüßen

Baufachfrau Berlin e.V., Karla Gunhild Brandler, Jürgen Freier, Frauke Heel, Stephanie Hensche, Dieter Hoch, Jochen Gester, Brigitte Knopf, Dino Laufer, Marion Rädisch, Cornelia Rasulis, Olaf Rose, Ulrike Schumacher, Anne Seeck, Elisabeth Voß, Ulrich Weiß, Gerald Wolf

Die "Initiative Anders Arbeiten" ist ein Zusammenhang verschiedener Gruppen und Einzelpersonen, der sich aus der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses "Anders arbeiten oder gar nicht?!" im April 1999 in der Berliner Humboldt-Universität, veranstaltet u.a. von Netzwerk Selbsthilfe und CONTRASTE - Monatszeitung für Selbstorganisation, entwickelt hat. Das Anliegen unseres Kongresses war es, die verschiedenen Ansätze des sog.
"Dritten Sektors" aus den Bewegungen der Genossenschaften, der Selbstverwaltung und der Bürgerrechtlerinnen zusammenzuführen und Ausgestaltungsmöglichkeiten sozialer Ökonomie und Perspektiven selbstbestimmter Arbeit zu diskutieren. Es wurde ein "Frühlingspapier" verabschiedet, in dem u.a. Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Förderung von selbstorganisiertem Leben und Arbeiten und von lokalem Wirtschaften für eine nachhaltige Entwicklung sowie zum Umbau des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors formuliert wurden. Wir führen weiterhin Veranstaltungen zu aktuellen Themen durch.

ANDERS ARBEITEN
c/o NETZWERK BERLIN
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10961 BERLIN
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FAX. (030) 691 30 05
mailto: andersarbeiten@t-online.de
http://www.contraste.org/anders-arbeiten

Dr. Gregor Gysi
Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen

Berlin, den 11.4.02

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihr offener Brief vom März 2002 hat mich erreicht.

Die PDS tritt nach wie vor bundespolisch für die Einführung einer
existenzsichernden Grundsicherung ein. Dazu gibt es mehrere Anträge der
Bundestagsfraktion. Allerdings ist eine solche Grundsicherung in einem
einzelnen Land nicht realisierbar und eine Koalitionsvereinbarung darf
keine Illusion verbreiten. Abgesehen davon lässt die gegenwärtige
Haushaltslage in Berlin auch finanziell einen solchen Sonderweg nicht zu.
Die Frage der existenzsichernden Grundsicherung wird aber auf der
Tagesordnung der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung in Deutschland
bleiben.

Richtig ist, dass Sie den Begriff des „öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor“ in der Koalitionsvereinbarung nicht finden.
Allerdings wird es Ihnen nicht schwer fallen , darauf zu kommen , woran das
liegt. Andrerseits beschreiben Sie selbst Ziele, die in der
Koalitionsvereinbarung formuliert sind, die letztlich dazu beitrügen , eine
Art öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zu schaffen. Auf der
anderen Seite müssen wir auch alle vom Bund angebotenen Instrumentarien in
der Arbeitsmarktpolitik nutzen, um möglichst vielen Menschen einen anderen
Status zu ermöglichen, die den Status der Erwerbslosigkeit als demütigend
unabhängig von den damit verbundenen finanziellen Einschränkungen empfinden.

Mit freundlichen Grüßen

Gregor Gysi

Offener Brief 13.03.2001

zur "maßgeschneiderten Förderung" für Erwerbslose

 

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder,

sehr geehrter Herr Arbeitsminister Riester,

sehr geehrte Damen und Herren MitarbeiterInnen des Bundesarbeitsministeriums,

 

mit großem Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung plant, mit Beginn des nächsten Jahres den Erwerbslosen eine "maßgeschneiderte Förderung" in Form individueller "Eingliederungspläne" anzubieten. Viele Erwerbslose fühlen sich bislang von den Arbeitsämtern vergessen, warten teilweise schon seit Jahren vergeblich auf ein Arbeitsangebot. Wir wissen aus den Erfahrungen vieler Beschäftigungsträger, welche Bedeutung selbst schlecht bezahlte ABM- oder SAM-Stellen für viele bislang Erwerbslose haben, und wie hart die Betroffenen oft um solche Stellen gekämpft haben.

Wir schätzen die gesellschaftlich übliche Bewertung von Erwerbsarbeit als wesentlichen Lebensinhalt und die Erwerbslosigkeit als Unglück sehr kritisch ein. In Berlin z.B. kommen etwa 375 Erwerbslose auf 1 freie Stelle, ohne Aussicht darauf, daß Erwerbsarbeit für alle je zu realisieren sei. Daher halten wir eine gesellschaftliche Umwertung für dringend erforderlich. Dies ändert aber nichts daran, daß wir jedes ernsthafte Bemühen befürworten, den von Erwerbslosigkeit Betroffenen und an ihr Leidenden alle Möglichkeiten anzubieten, doch noch zum begehrten Job zu kommen.

Geradezu entsetzt sind wir jedoch, wenn dieses Bemühen begleitet wird von einer Hetze gegen angeblich nicht Arbeitswillige, wie sie z.B. gestern in der ZDF-Sendung "heute" in der Neuschöpfung des Schimpfworts "Sozialkriminelle" eskalierte. Damit waren wohlgemerkt nicht etwa steuerhinterziehende Konzerne oder die Beteiligten an Spendenskandalen gemeint, sondern die Erwerbslosen.

Wir vertreten ganz klar das Recht auf Nichterwerbsarbeit und treten ein für eine bedingungslose Grundsicherung in Form eines Existenzgeldes für alle. Aber wir wissen auch, welch große Bedeutung Erwerbsarbeit für den überwiegenden Anteil der Bevölkerung heute hat, und wie sehr die meisten Erwerbslosen unter ihrer Situation leiden. Daher wenden wir uns entschieden gegen diese diskriminierende Stimmungsmache.

Wir fordern Sie auf, allen Äußerungen entschieden entgegenzutreten, die Öl ins Feuer dieser Stammtischparolen gießen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen zur gerechteren Verteilung der Erwerbsarbeit und zur Eröffnung von Chancen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit ohne Anwendung von Zwangsmaßnahmen und Stigmatisierung.

Aus unserer Sicht wären als nachhaltig wirksame Maßnahmen v.a. deutliche Arbeitszeitverkürzungen für alle und die Einrichtung eines Öffentlich Geförderten Beschäftigungssektors (ÖBS) für gesellschaftlich notwendige, aber nicht marktfähige Tätigkeiten v.a. im sozialen und kulturellen Bereich erforderlich.

 

Mit freundlichen Grüßen Jürgen Freier Dieter Hoch Erwin Riedmann

Angelika Gödde Joachim Maiworm Anne Seeck

Axel Grundler Birgit Mathy Elisabeth Voß

Hans Hagen Katrin Mohr Gerald Wolf

Die "Initiative Anders Arbeiten" ist ein Zusammenhang verschiedener Gruppen und Einzelpersonen, der sich aus der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses "Anders arbeiten – oder gar nicht?!" im April 1999 in der Berliner Humboldt-Universität, veranstaltet u.a. von Netzwerk Selbsthilfe und Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation, entwickelt hat. Das Anliegen unseres Kongresses war es, die verschiedenen Ansätze des sog. "Dritten Sektors" aus den Bewegungen der Genossenschaften, der Selbstverwaltung und der Bürgerrechtlerinnen zusammenzuführen und Ausgestaltungsmöglichkeiten sozialer Ökonomie und Perspektiven selbstbestimmter Arbeit zu diskutieren. Es wurde ein "Frühlingspapier" (siehe Anlage) verabschiedet, in dem u.a. Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Förderung von selbstorganisiertem Leben und Arbeiten und von lokalem Wirtschaften für eine nachhaltige Entwicklung sowie zum Umbau des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors formuliert wurden. Wir führen weiterhin Veranstaltungen zu aktuellen Themen durch.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008