BELGRAD, 30. MÄRZ 1999:
Das Kind mit dem Bad weggebombt
Der NATO-Angriffskrieg gegen
Jugoslawien geht Tag um Tag weiter. Das, was nach Angaben der NATO das Ziel der
Luftangriffe sei, eine »humanitäre Katastrophe zu verhindern« wird Tag für Tag
schlimmer. Eine Frau der Oppositions- und Antikriegsgruppe »Frauen in Schwarz« hat das
(in einer e-mail) auf den Nenner gebracht: »Am Himmel die NATO, am Boden Milosevic«. Die
jahrelang vom Westen im Stich gelassene jugoslawische Opposition fordert dringend ein Ende
der NATO-Bombardements. Im folgenden dokumentieren wir dazu einen übersetzten Artikel des
(ehemaligen) Chefredakteurs des unabhängigen Radiosenders »B92« aus Belgrad.
Veran Matic, Belgrad - Die Nato-Luftangriffe gegen Jugoslawien wurden angeordnet, um die
Kriegsmaschinerie von Milosevic zu stoppen. Das weitergehende Ziel lag darin, die
Bevölkerung im Kosovo und diejenigen in Serbien zu schützen, die ebenfalls Opfer des
Milosevic-Regimes sind.
Die Realität der Bombardierung sieht
anders aus: Das Leben von 10,5 Millionen Menschen wird aufs Spiel gesetzt und eine
Angriffswelle in Kosovo und in Serbien ausgelöst, mit der die demokratischen Kräfte in
die Flucht geschlagen werden. Der Bombenteppich hat die Arbeit der reformorientierten
Kräfte in Montenegro und in den serbischen Gebieten von Bosnien-Herzegowina sowie ihre
Anstrengungen für den Frieden unterminiert. Wenn das Ziel der Angriffe die Verhinderung
einer humanitären Katastrophe im Kosovo war, dann demonstriert die Bombardierung
Jugoslawiens die politische Machtlosigkeit des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton
und der westlichen Alliierten. Der Schutz einer Bevölkerung gegen Bedrohungen ist eine
ehrenwerte Aufgabe, aber sie erfordert eine klare Strategie und eine kohärente
Zielsetzung. So wie sich die Situation am Boden und in der Luft Tag für Tag entwickelt,
wird immer offensichtlicher, daß es keine solche Strategie gibt.
Stattdessen erfüllt die Nato ihre
selbstgesetzten Erwartungen und Untergangsprophezeiungen: Mit jeder Bombe, die
einschlägt, vergrößert sich die humanitäre Katastrophe, die die Nato eigentlich
verhindern sollte. Es ist nicht einfach, diese Kriegsmaschinerie zu stoppen, wenn sie
einmal mit voller Wucht in Gang gesetzt wurde. Aber ich rufe die Mitglieder der Nato
dringend auf, einen Moment einzuhalten und über die Folgen ihres Handelns nachzudenken.
Politische Kommentatoren und Analytiker fragen schon, ob es bei diesen Luftangriffen
wirklich um die Rettung der Bevölkerung im Kosovo gehe. Wie weit sind die Nato-Staaten
bereit zu gehen? Was kommt als nächstes, nach den bisher angegriffenen »militärischen
Zielen«? Was soll geschehen, wenn der Krieg über die Grenzen greift? Diese
beängstigenden Fragen müssen beantwortet werden, aber ich befürchte, daß kaum jemand
mit der historischen Last leben will, darauf eine Antwort zu geben.
Die gleichen Fragen haben mich
beschäftigt, als ich am ersten Tag der Nato-Angriffe auf mein Land in Belgrad im
Gefängnis saß. Ich verbrachte die Stunden in der Zelle mit jemandem, der wegen
Mordverdachtes einsaß, und wunderte mich, was die Ziele des Westens für den »Morgen
danach« sein könnten. Das Bild einer Nato, die den Finger vom Abzug nimmt, ging mir
ständig durch den Kopf. Bis heute sehe ich nirgends Hinweise darauf, daß es einen klaren
Plan dafür gibt, was nach dem westlichen Militärentscheid kommen soll.
Meine Freunde im Westen fragen mich
immer wieder, weshalb es nicht zu einer Rebellion in Serbien komme. Wo sind all die Leute,
die 1996 während dreier Monate Tag für Tag auf die Straßen geströmt sind, um
Demokratie und Menschenrechte einzufordern? Zoran Zivkovic, der oppositionelle
Bürgermeister von Nis, hat darauf letzte Woche geantwortet: »Vor zwanzig Minuten wurde
meine Stadt bombardiert. Hier leben die gleichen Leute, die 1996 für Demokratie gestimmt
haben, und die gleichen Leute, die hundert Tage lang protestiert haben, als die Behörden
ihnen den Wahlerfolg mit Wahlfälschungen zu stehlen versuchten. Sie stimmten und wählten
für die Demokratie, die wir aus Europa und den USA kennen. Heute wurde meine Stadt
bombardiert von den demokratischen Staaten USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland
und Kanada! Soll das wirklich Sinn machen?«
Die meisten dieser Menschen fühlen
sich verraten von den Ländern, die für sie Vorbilder waren. Gerade gestern landete eine
Rakete im Hof unseres Korrespondenten in Sombor. Glücklicherweise explodierte sie nicht,
aber andere Raketen sind in den Höfen vieler anderer Menschen in die Luft gegangen. Diese
Leute werden nun gezwungen, die Waffen zu ergreifen und sich ihren Söhnen anzuschließen,
die bereits in der Armee dienen. Mit dem Bombenregen um sie herum kann sie niemand davon
überzeugen, daß dieser Angriff ihrer Regierung gilt und nicht ihrem Land.
Es mag zynisch erscheinen, daß ich
diese Zeilen in der Sicherheit meines Büros in Belgrad schreibe sicher jedenfalls im
Vergleich zu Pristina, Djakovica, Podujevo und anderen Orten in Kosovo. Aber ich komme
auch hier nicht darum herum zu fragen: Wie können F-16 verhindern, daß sich Menschen
gegenseitig auf der Straße umbringen? Nur wenige Tage, bevor der Angriff begann,
unterbreitete Nato-Generalsekretär Javier Solana den Vorschlag, eine »Partnership for
Democracy« in Serbien und anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens einzurichten, mit
dem Ziel, die Stabilität in der ganzen Region zu fördern. In einer schnellen
Kehrtwendung um 180 Grad gab er dann den Befehl zum Angriff.
Mir scheint, daß sich der Westen mit
diesen Angriffen von den Menschen, Albaniern, Serben und anderen, die in der Region leben,
verabschiedet hat. Die Sünden der Regierung, die Fehler der Politiker und die
Verantwortung für die aktuelle Entwicklung werden der Bevölkerung aufgebürdet. Ist das
gerecht? Es gibt eine Menge anderer Faktoren, die die Politik einer Regierung bestimmen,
als der bloße Wille der Wähler am Wahltag. Wenn ein stabiles und demokratisches System
aufgebaut werden soll, und wenn der Aufstieg von Demagogen, Populisten und anderen
Betrügern vermieden werden soll, dann muß die Öffentlichkeit zuallererst aufgeklärt
werden.
Mit anderen Worten: Es braucht
unabhängige Medien. Die Bomben der Nato haben die keimenden Samen der Demokratie aus dem
Boden von Kosovo, Serbien und Montenegro herausgesprengt und sichergestellt, daß sie für
lange Zeit nicht mehr sprießen werden. Die prodemokratischen Kräfte in der Republik
Srpska, dem bosnisch-serbischen Gebiet, sind aufs Spiel gesetzt worden und mit ihnen das
Akommen von Dayton. Die Intervention der Nato hat auch dem lokalen Krieg gegen den
prodemokratischen Präsidenten von Montenegro, Milo Djukonavic, grünes Licht gegeben.
Die unabhängigen Medien in Serbien
haben während Jahren Nationalismus, Haß und Krieg bekämpft. Als Vertreter dieser
Medien, und als Mensch, der mehr als einmal die Konsequenzen seiner politischen
Überzeugungen zu tragen hatte, rufe ich US-Präsident Bill Clinton auf, die Angriffe der
Nato gegen mein Land zu beenden. Ich rufe ihn auf, Verhandlungen zu beginnen, die auf eine
Absicherung des Rechts auf ein friedvolles Leben und auf Demokratie für alle Menschen in
Jugoslawien, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, abzielen.
Als Vertreter der unabhängigen Medien
kenne ich das Bedürfnis nach Information der Menschen auf allen Seiten des Konflikts nur
all zu gut. Die Menschen hier müssen über die internationale Debatte und über das
Geschehen im Land informiert sein. Die internationale Öffentlichkeit muß die Wahrheit
über das, was hier geschieht, erfahren. Aber anstelle eines ungehinderten Flusses
akkurater Informationen hören wir alle nur Kriegspropaganda einschließlich westlicher
Rhetorik. Die Wahrheit ist immer das erste Opfer in Kriegszeiten. Hier und jetzt werden
daher auch Journalisten ermordet.
ZUR PERSON
Veran Matic war Chefredakteur des seit dem 24. März 1999
verbotenen Belgrader Radiosenders B92, und ein führender Friedensaktivist. Er hat eine
Vielzahl internationaler Medien- und Demokratiepreise zugesprochen erhalten, als letztes
den »Free Your Mind«-Preis von MTV Europe. Am World Economic Forum (WEF) in Davos wurde
er dieses Frühjahr zu einem von Hundert Global Leader for Tomorrow ernannt.
Radio B92 führt seine Arbeit fort, so
weit dies die Umstände des Krieges erlauben. Weiterhin strahlt es aktuelle Nachrichten
über Internet aus auf http://www.b92.net, über Satellit und über
eine große Zahl von Radiostationen rund um die Welt; Radiostationen, die die Programme
von B92 aus Solidarität unterstützen. Weitere aktuelle Informationen unabhängiger
Medienquellen aus dem ehemaligen Jugoslawien und Hintergrundartikel zum Konflikt und zu
unabhängigem Medienschaffen sind zu finden über die Homepage der Medienhilfe
Ex-Jugoslawien: http://www.medienhilfe.ch
Radiosender B92 geschlossen
Heute (02.04.99) wurde nun der
Radiosender B92 endgültig geschlossen. Die Morgensendung wurde abrupt unterbrochen,
nachdem Polizisten und Justizvertreter in das Studio eingedrungen waren. Sie übergaben
eine gerichtliche Verfügung, wonach der Direktor Sasa Mirkovic durch Aleksander Nikacevic
ersetzt wird. Nikacevic gilt als Gefolgsmann der Regierung. Der terristische Sender B92
war am Tage der NATO-Luftangriffe abgestellt worden, war aber weiterhin über Satellit und
im Internet zu empfangen. Die letzte Mitteilung im Internet ist bisher die über die
eigene Schließung.