WIRTSCHAFTLICHE HINTERGRÜNDE UND STRATEGISCHE INTERESSEN
Wie Jugoslawien zerstört wurde
Nach allgemeiner westlicher
Ansicht, die kaum in einem Medienbeitrag angezweifelt wird, haben »die Serben« den Krieg
im ehemaligen Jugoslawien begonnen, bei der Zerstörung des Landes die entsprechenden
Greueltaten quasi allein begangen und stellen bis heute den wesentlichsten Faktor für die
Gefährdung des Friedens in dem jetzt geteilten Land dar. Wenn die Kommentatoren das
Problem nicht ganz so einseitig beleuchten, so hantieren sie doch im wesentlichen mit
ethnischen und moralischen Argumenten, als sei der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ganz
und gar eine Frage der unterschiedlichen Mentalitäten, und somit im Grunde auch ein
Beweis für die Unmöglichkeit multiethnischer Gesellschaften. Der folgende Artikel, der
von dem kanadischen Ökonom Michel Chossudovsky stammt, klärt über die wirtschaftlichen
Hintergründe des Jugoslawienkriegs auf, und diskutiert auch das strategische Interesse
des Westens, insbesondere der BRD und der USA, an der Zerstörung Jugoslawiens. Der Autor
lehrt an der Universität von Ottawa.
von Michel Chossudovsky - Während schwer bewaffnete NATO-Truppen den Frieden in Bosnien
aufrechterhalten, porträtieren die Medien und die Politiker die westliche Intervention im
ehemaligen Jugoslawien als eine passende und noble, wenn auch peinlich verspätete Antwort
auf die ethnischen Massaker und Menschenrechtsverletzungen. Im Vollzug der des Daytoner
Friedensabkommens vom November 1995 möchte sich der Westen gerne als der Retter der
Südslawen darstellen und mit dem »Aufbau der neuerdings souveränen Staaten«
weiterkommen.
Aber die öffentliche Meinung ist in die
Irre geführt worden, indem sie diesem wohlgefälligen Muster folgte. Die
Mehrheitsmeinung, wie sie vom ehemaligen US-Botschafter in Jugoslawien, Robert Zimmermann, exemplarisch vertreten wird, hält die Schwierigkeiten auf dem Balkan
für ein Ergebnis des aggressiven Nationalismus, für das unausweichliche Resultat tief in
der Geschichte verwurzelter ethnischer und religiöser Spannungen.(1)
In ganz ähnlicher Weise ist viel über die »Machtspiele« auf dem Balkan und den Streit
zwischen politischen Führern geredet worden: »Tudjman und Milosevic reißen
Bosnien-Herzegowina auseinander«. (2)
Aber die Flut der Bilder und die
selbstgefälligen Analysen decken die sozialen und ökonomischen Gründe für den Konflikt
zu. Von der schwerwiegenden Wirtschaftskrise, die dem Krieg vorherging, ist keine Rede
mehr. Die strategischen Interessen der Bundesrepublik und der Vereinigten Staaten an der
Destabilisierung Jugoslawiens werden nie erwähnt, ebenso wenig wie der Einfluß der
ausländischen Kreditoren und der internationalen Finanzorganisationen. Nach Ansicht der
Weltpresse trägt der Westen keine Schuld für die Ausplünderung und Zerstörung eines
Landes mit 24 Millionen Einwohnern.
Und dennoch haben die Westmächte mit Hilfe
ihrer Vormachtstellung in der globalen Finanzwirtschaft, in Verfolgung ihrer kollektiven
und individuellen »strategischen Interessen«, vom Beginn der achtziger Jahre an
mitgeholfen, die jugoslawische Wirtschaft zu vernichten und dabei schwelende ethnische und
soziale Konflikte anzuheizen. Jetzt werden angeblich die Anstrengungen der internationalen
Finanzclubs auf die »Unterstützung der kriegszerstörten Nachfolgestaaten Jugoslawiens«
konzentriert. Aber während die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich auf
Truppenbewegungen und Waffenstillstände richtet, sind die Kreditoren und internationalen
Finanzorganisationen eifrig dabei, die Auslandsschulden des ehemaligen Jugoslawien
beizutreiben, während sie den Balkan in ein Paradies für die freie Marktwirtschaft
verwandeln.
Die seit Beginn der achtziger Jahre
durchgesetzten Reformen, diktiert von ausländischen Kreditoren, chaotisierten Wirtschaft
und Politik des Landes, führten zur Zerstörung des industriellen Sektors und bauten
Stück für Stück das Sozialsystem des Landes ab. Trotz Belgrads politischer Neutralität
und seiner ausgedehnten Handelsbeziehungen zu den USA und der EU, hatte die
Reagan-Administration die jugoslawische Wirtschaft in einer Geheimdirektive von 1984
(National Security Decision Directive / NSDD 133) ins Visier genommen. Ihr Titel lautete
schlicht: »Die Politik der USA in Bezug auf Jugoslawien«. Eine zensierte Version dieses
Dokuments, die 1990 der Öffentlichkeit preisgegeben wurde, stimmte im wesentlichen mit
einer früheren Direktive über Osteuropa von 1982 überein (NSDD 54). Sie forderte unter
anderem fortgesetzte Anstrengungen zur Entfachung von »stillen Revolutionen«, mit dem
Ziel der Überwindung kommunistischer Regierungen und Parteien, während die Länder
Osteuropas wieder dem Wirkungskreis des Weltmarktes unterworfen werden sollten. (3)
Separatistische Tendenzen, die sich auf
ethnische und soziale Unterschiede stützten, gewannen genau während einer Phase brutaler
Verarmung unter der jugoslawischen Bevölkerung an Gewicht. Die erste Phase
makroökonomischer Reformen, die kurz vor dem Tod Marschall Titos im Jahr 1980 initiiert
wurde, »hatte politisch und ökonomisch gesehen desaströse Auswirkungen. Langsameres
Wirtschaftswachstum, das Anwachsen der Auslandsschulden und insbesondere die
Zinsbelastung, begleitet von einer Inflation, brachten den Lebensstandard des
durchschnittlichen Jugoslawen zu einem erdrutschartigen Absinken. (...) Die
Wirtschaftskrise bedrohte die politische Stabilität (...). Sie führte auch zu einer
Verstärkung untergründiger ethnischer Spannungen.« (4) Diese Reformen, die
von Umschuldungsverträgen mit den staatlichen und kommerziellen Kreditoren des Landes
begleitet wurden, dienten gleichermaßen zu einer Schwächung des jugoslawischen
Bundesstaats und führten zu politischen Spannungen zwischen der Hauptstadt Belgrad und
den Regierungen der Teilrepubliken und der autonomen Provinzen. Der Premierminister Milka Planinc, der das Restrukturierungsprogramm ausführen sollte, mußte dem IWF
(Internationaler Währungsfonds) sofort erhöhte Schuldentilgungsraten und andere
Maßnahmen zur Erfüllung reagonomistischer Forderungen versprechen (...). (5)
Kurz nach Einsetzen der makroökonomischen Reformen im Jahr 1980, fiel das
Wirtschaftswachstum auf 2,8% in der Zeit von 1980-87. 1987-88 stand es bei 0%, und fiel im
Zeitraum um 1990 auf -10,6%.
Die Wirtschaftsreformen erreichten ihren
Höhepunkt unter der US-freundlichen Regierung von Ante Markovic. Im Herbst
1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, war der Premierminister nach Washington
gereist, um den damaligen Präsidenten George
Bush zu treffen. Ein
»Finanzhilfeprogramm« war im Austausch für drastische Wirtschaftsreformen versprochen
worden, die die Einführung einer neuen, abgewerteten Währung, ein Einfrieren der Löhne,
eine drastische Kürzung der Staatsausgaben und die Abschaffung der selbstverwalteten
vergesellschafteten Betriebe vorsah.(7) Die »Wirtschaftstherapie« (im Januar 1990 in
Effekt gebracht) trug zur Lähmung des Bundestaats bei. Steuergelder, die als
Ausgleichszahlungen an die Teilrepubliken und die autonomen Provinzen hätten gehen
sollen, dienten zur Schuldentilgung bei den Pariser und Londoner Finanzclubs. Die
Teilrepubliken wurden sich größtenteils selbst überlassen, wodurch sich der Prozeß der
politischen Zersplitterung beschleunigte. Im Handstreich hatten die Reformer die
Abschaffung der föderalen Finanzstruktur durchgesetzt und dadurch die bundestaatlichen
Institutionen gelähmt. Die vom IWF induzierte Budgetkrise schuf in wirtschaftlicher
Hinsicht vollendete Tatsachen, die den Weg für die formale Abspaltung Kroatiens und
Sloweniens im Juni 1991 frei machten.
Die Übereinkunft mit dem IWF
Das Reformpaket wurde im Januar 1990 mit
Hilfe eines IWF Moratoriums (Stand-By Arrangement / SBA) und eines
Strukturanpassungskredits (Structural Adjustment Loan / SAL II) der Weltbank auf den Weg
gebracht.
Die Budgeteinschnitte, mit denen die
Verwendung von Steuergeldern für den Schuldendienst einherging, erforderten die
Einstellung von Ausgleichszahlungen an die Regierungen der Teilrepubliken und der
autonomen Provinzen. Dadurch wurden der Prozeß der politischen »Balkanisierung« und der Sezessionismus
unterstützt. Die serbische Regierung wies Markovics Sparprogramm glatt zurück, was zu einem Spontanstreik von 650.000
Arbeitern gegen die Bundesregierung führte. Die Gewerkschaften waren sich in diesem Kampf
einig: »Der Arbeiterwiderstand übersprang die ethnischen Barrieren, als Serben, Kroaten,
Bosnier und Slowenen gemeinsam mit ihren Kollegen auf die Straße gingen.«(9)
Die industrielle Strukturreform von 1989
Die industrielle Strukturreform, die 1989
ebenfalls von Ante Markovic vorangetrieben wurde, war ein weiterer Meilenstein
auf dem Weg des industriellen Sektors in den Bankrott. 1990 war das jährliche Wachstum
des Bruttoinlandprodukts auf -7,5% gefallen. 1991 fiel es um weitere 15%, die industrielle
Produktivität sank um 21%.(11) Die Strukturreform, die von Belgrads Kreditoren
diktiert worden war, hatte die Abschaffung der vergesellschafteten Betriebe zum Ziel. Das
Unternehmensgesetz von 1989 verlangte die Abschaffung der »Grundstrukturen
gemeinschaftlicher Arbeit« (»Basic Organizations of Associated Labour« / BAOL), die
eine Form vergesellschafteter Produktionsgemeinschaften unter der Leitung der
Betriebsräte darstellten. Das Gesetz schrieb die Verwandlung dieser Strukturen in
privatkapitalistische Unternehmen vor, wobei die Betriebsräte durch sogenannte
»Sozialkomitees« unter der Kontrolle des Betriebseigners und seiner Kreditoren ersetzt
werden sollten.(13) »Das Ziel war eine massive Privatisierung der
jugoslawischen Wirtschaft und die Vernichtung des öffentlichen Sektors. Und wer sollte
für die Durchsetzung dieser Maßnahmen sorgen? Die kommunistische Parteibürokratie!
Namentlich ihr militärischer und
geheimdienstlicher Teil wurde gründlich korrumpiert und gewährte daraufhin politische
und ökonomische Unterstützung bei der Abschaffung der sozialen Rechte der jugoslawischen
Arbeiterschaft ...«(14)
Runderneuerung der Gesetzgebung
Eine ganze Anzahl neuer Gesetze wurde unter
dem Beistand westlicher Rechtsanwälte und Berater hastig verabschiedet. Ein neues
Bankengesetz trat in Kraft, das die Liquidation der gemeineigenen Banken vorsah. Über die
Hälfte aller jugoslawischen Banken wurden geschlossen, der Nachdruck lag eindeutig auf
der Schaffung »unabhängiger, profitorientierter Institutionen«.(15)
Schon 1990 war das dreigliedrige Bankensystem, das aus der Nationalbank Jugoslawiens, den
acht Nationalbanken der Teilrepubliken und der autonomen Provinzen und den kommerziellen
Banken bestand, unter der Ägide der Weltbank vernichtet.(16) 1990 handelte man
einen sogenannten Sektor-Restrukturierungs-Kredit mit der Weltbank aus, der 1991 von der
Belgrader Regierung angenommen wurde. (...)
Das Bankrott-Programm
Alle Industrieunternehmen waren sorgfältig
kategorisiert worden. Unter den IWF / Weltbank-gesponserten Reformen waren die Kredite an
den industriellen Sektor eingefroren worden, mit der klaren Perspektive, den
Auflösungsprozeß zu beschleunigen. Das »Gesetz zur Regelung der Finanzwirtschaft« von
1989 hatte sogenannte »Abwicklungsmechanismen« geschaffen, die besagten, daß ein
Unternehmen im Falle einer 45 Tage andauernden Zahlungsunfähigkeit innerhalb von 15 Tagen
eine Einigung mit seinen Kreditoren erreichen mußte. Dies erlaubte den Kreditoren, ihre
Kredite routinemäßig als Machtmittel über die zahlungsunfähigen Unternehmen zu
mißbrauchen. Das Gesetz verbot Regierungsinterventionen. Wenn keine Übereinkunft erzielt
werden konnte, wurde der Konkurs eingeleitet, ohne daß den Arbeitern Übergangsgelder
bezahlt wurden. 1989 wurden so, offiziellen Quellen zufolge, 248 Unternehmen in den
Bankrott geführt oder aufgelöst, 89.400 Arbeiter verloren ihren Arbeitsplatz.(19)
Während der ersten neun Monate von 1990, im
unmittelbaren Anschluß an die Installierung der IWF-Programme, gingen weitere 889 Firmen
mit einer Gesamtbelegschaft von 525.000 Arbeitern in Konkurs.(20)
Mit anderen Worten, die gesetzlichen Regelungen führten innerhalb zweier Jahre für über
600.000 Arbeiter zur Arbeitslosigkeit, und das bei einer nur 2,7 Millionen starken
industriellen Arbeiterschaft in ganz Jugoslawien. Die höchste Zahl von Bankrotten und
neuen Arbeitslosen entfiel auf Serbien, Bosnien, Herzegowina, Makedonien und den Kosovo.(21)
Viele vergesellschaftete Betriebe versuchten
den Bankrott zu vermeiden, indem sie keine Löhne zahlten. Eine halbe Million Arbeiter,
also ungefähr 20% der Industriearbeiterschaft, erhielten während der ersten Monate von
1990 keinen Lohn, um die Forderungen der Kreditoren im Rahmen der »Übereinkünfte« zu
erfüllen, wie sie das »Gesetz zur Regelung der Finanzwirtschaft« vorsah. Die Reallöhne
befanden sich in freiem Fall, Sozialprogramme waren zusammengebrochen, die Konkurswelle in
der Industrie hatte zu flächendeckender Arbeitslosigkeit geführt, und all dies
verursachte bei der Bevölkerung eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und sozialen
Verzweiflung. »Herr Markovic startete seine gelenkte Privatisierung. Die Oligarchien der
Teilrepubliken, die alle von einer nationalen Erneuerung träumten, hatten die Wahl
zwischen Krieg und einem echten jugoslawischen gemeinsamen Markt plus Hyperinflation. Sie
wählten den Krieg. Dieser Krieg sollte die wahren Ursachen der wirtschaftlichen
Katastrophe verbergen.«(22)
Das vom IWF unterstützte
Reformpaket vom Januar 1990 trug zweifelsohne zu steigenden unternehmerischen Verlusten
bei, während es viele der großen Unternehmen der Elektrotechnik, der Petrochemie, des
Maschinenbaus, und der Chemiebranche in den Ruin trieb. Darüber hinaus provozierte die
Deregulierung des Außenhandels im Januar 1990 eine Flut von Warenimporten aus dem
Ausland, die weiter dazu beitrug, die einheimische Produktion zu destabilisieren. Diese
Importe wurden mit geliehenem Geld finanziert, das der IWF im Rahmen des
Gesamtpakets gewährt hatte, und zwar in der Form sogenannter »Schnellkredite«, die vom IWF, der Weltbank und verschiedenen Geberländern zur Unterstützung der ökonomischen
Reformen ausgeschüttet wurden. Der Importboom steigerte den Schuldendruck auf
Jugoslawien, und die abrupten Anstiege bei Zinsen und Einkaufspreisen, mit denen die
einheimische Industrie konfrontiert war, führten gleichzeitig zum Ausschluß
einheimischer Produkte vom innerjugoslawischen Markt.
»Die Freisetzung überflüssiger Arbeitskräfte«
Die Situation, die kurz vor der Abspaltung
Kroatiens und Sloweniens im Juni 1991 herrschte, und die sich in den Bankrottzahlen für
89/90 ausdrückt, verdeutlicht die Größenordnung und die Brutalität des industriellen
Abbaus. Diese Zahlen allein jedoch geben nur ein unvollständiges Bild, indem sie
lediglich die Situation am Beginn des »Bankrottprogramms« verdeutlichen. Dieses Programm
hat mit voller Wirkung den ganzen Krieg über angedauert, und bestimmt seine Nachwehen.
(...) Ähnliche industrielle Restrukturierungsprogramme haben die ausländischen
Kreditoren über alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens verhängt.
Die Weltbank schätzte im
September 1990 die Zahl der »Verlust erwirtschaftenden Betriebe« immer noch auf 2.435,
bei einer verbliebenen Gesamtzahl von 7.531.(23) In anderen Worten,
diese 2.435 Firmen, mit einer Gesamtbelegschaft von 1,3 Millionen, wurden als
»zahlungsunfähig« kategorisiert, und dadurch dem sofortigen Beginn von Konkursverfahren
unterworfen. Wenn man bedenkt, daß 600.000 Arbeiter vor September 1990 von bankrotten Firmen bereits entlassen worden waren, bedeuten
diese Zahlen, daß 1,9 von insgesamt 2,7 Millionen Arbeitern für schlicht und ergreifend
»überflüssig« erklärt wurden. Die »zahlungsunfähigen« Firmen, die sich vor allem
in den Bereichen Energie, Schwerindustrie, Metallverarbeitung, Forstwirtschaft und
Textilindustrie konzentrierten, gehörten zu den größten Firmen des Landes und
repräsentierten im September 1990 49,7% der gesamten verbliebenen industriellen
Arbeiterschaft.(24)
Politische Auflösung
Unter der Verfolgung weitsichtiger
strategischer Interessen hatten die Sparmaßnahmen den Weg für die Rekolonisierung des
Balkans geebnet. Bei den Mehrparteienwahlen 1990 stand die Wirtschaftspolitik im Zentrum
des Interesses, und die separatistischen Allianzen konnten die Kommunisten in Kroatien,
Bosnien-Herzegowina und Slowenien besiegen. Nach dem Erdrutschsieg der rechtsgerichteten
Demokratischen Union in Kroatien von 1990 unter der Führung von Franjo Tudjman gewann die Abspaltung Kroatiens die Zustimmung des deutschen
Außenministers Hans-Dietrich Genscher, der beinahe täglich mit seinem Kollegen in Zagreb
in Verbindung stand.(25) Deutschland unterstützte nicht nur die Abspaltung,
es »bestimmte auch das Tempo der internationalen Diplomatie« und drängte
seine westlichen Verbündeten zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Kroatien
(einschließlich des Territoriums von Bosnien-Herzegowina) war im zweiten Weltkrieg unter
dem faschistischen Ustasha-Regime ein Satellit der Achsenmächte: »Die deutsche
Expansionspolitik wird von einem Anwachsen des Nationalismus und der Fremdenangst
begleitet (...). Deutschland möchte freie Hand haben, um seine ökonomische
Vormachtstellung in ganz Mitteleuropa auszubauen. (...)« (26)
Washington hingegen bevorzugte die Bildung »einer losen Konföderation durch die
Unterstützung demokratischen Fortschritts (...)« Der US-Staatssekretär Baker sagte dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und dem
slowenischen Präsidenten Milan Kucan, daß die USA eine einseitige Abspaltung nicht unterstützten. Wenn sie unbedingt gehen
müßten, dann sollten sie das durch die Ausarbeitung einer vertraglichen Vereinbarung tun
(...)(27)
Der Wiederaufbau nach dem Krieg
Die Wirtschaftsreformen, die jetzt den
Nachfolgestaaten aufgezwungen werden, sind eine logische Erweiterung und Fortsetzung
dessen, was das ehemalige Jugoslawien zu Fall gebracht hat. In den tragischen Nachwehen
eines brutalen und sinnlosen Krieges sind die Chancen zum Wiederaufbau der neuerdings
unabhängigen Republiken gering. Trotz des weitgehenden Schweigens in der Presse über
dieses Thema sind Umschuldungen ein integraler Bestandteil des Friedensprozesses. Das
ehemalige Jugoslawien ist unter der Lupe der ausländischen Kreditoren zerstückelt, und
seine Auslandsschulden sind genauestens an die verschiedenen Nachfolgestaaten aufgeteilt
worden. Die Privatisierungsprogramme, die unter der Ägide der Geberländer installiert
worden sind, haben zu noch größerem Wirtschaftsabbau und weiterer Verarmung der
Bevölkerung beigetragen. Das Bruttoinlandsprodukt ist um sage und schreibe 50% in vier
Jahren gefallen (1990-1993).(28)
Darüber hinaus kollaborieren die Führer
der neuerdings souveränen Staaten voll und ganz mit den ausländischen Kreditoren: »Alle
gegenwärtigen Führer der ehemaligen jugoslawischen Republiken waren Funktionäre der
kommunistischen Partei, und jeder von ihnen gierte geradezu danach, die Forderungen der Weltbank und des IWF zu erfüllen, um sich für die Investitionskredite
und die beträchtlichen Geschenke an die politische Elite zu qualifizieren (...).
Staatliche Betriebe wurden geplündert, und der Maschinenpark tauchte in
»Privatunternehmen« auf, die von Mitgliedern der Nomenklatura geführt wurden«.(29)
Noch während der Krieg andauerte, traten
Kroatien, Slowenien und Makedonien in unabhängige Kreditverhandlungen mit den
Institutionen von Bretton Woods ein. In Kroatien ratifizierte die Regierung 1993
unter Franjo Tudjman ein Abkommen mit dem IWF.
Massive Budgetkürzungen, die von diesem Abkommen verlangt wurden, lähmten Kroatiens
Anstrengungen zur Stimulierung der eigenen Wirtschaftskräfte und gefährdeten somit den
Wiederaufbau nach dem Krieg. Die Kosten zum Wiederaufbau der kriegsgeschüttelten
kroatischen Wirtschaft sind auf etwa 23 Milliarden US-Dollar geschätzt worden, weitere
Kredite sind unvermeidlich. Ohne Schuldenstreichungen wird die Schuldenlast Zagrebs bis
weit ins 21. Jahrhundert immer weiter anwachsen. Als Gegenleistung für ausländische
Kredite hat die Regierung Tudjmans Reformen zugestimmt, die zu noch mehr
Firmenstillegungen und Konkursen geführt hat, während die Löhne auf ein katastrophal
niedriges Niveau gefallen sind. Die offizielle Arbeitslosenrate stieg von 15,5% (1991) auf
19,1% 1994.(30)
Zagreb hat auch ein weit strengeres
Konkursrecht eingeführt, zusammen mit »Entflechtungsverfahren« für große staatseigene
Betriebe. In ihrer »Absichtserklärung« an die Bretton-Woods-Institutionen verspricht die kroatische Regierung die Restrukturierung und völlige
Privatisierung der Banken, und zwar unter Mithilfe der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung und der Weltbank. Diese Institutionen haben auch einen Umbau
des kroatischen Finanzmarkts verlangt, um ihn für westliche Investoren und
Finanzspekulanten leichter zugänglich zu machen.
Makedonien ist ähnliche Wege gegangen. Im
Dezember 1993 stimmte die Regierung in Skopje einer Senkung der Reallöhne und einer
Einfrierung der normalen Kredite zu, um einen Sonderkredit von der
»System-Anpassungs-Abteilung« (Systemic Transformation Facility / STF) des IWF
zu erhalten. In einer untypischen Wendung beteiligte sich der Multimilliardär George Soros an den Aktivitäten der »internationalen Unterstützergruppe«, die sich
hauptsächlich aus der Regierung der Niederlande und der in Basel beheimateten Bank für
internationale Schuldentilgung zusammensetzte. Das Geld, das diese Unterstützergruppe zur
Verfügung stellte, war aber nicht für den Wiederaufbau bestimmt, sondern für die
Rückzahlung von Krediten, die Skopje der Weltbank schuldig war (...). (31)
Darüber hinaus mußte die Regierung des makedonischen Premierministers Branko Crvenkovski der Abwicklung der restlichen »Verlustbetriebe« und der Entlassung der
»überflüssigen« Arbeiter zustimmen - was für die Hälfte der Industriearbeiter des
Landes die Arbeitslosigkeit bedeutete. Dazu bemerkte der stellvertretende Finanzminister
nüchtern, daß es bei astronomischen Profitraten aufgrund der kreditorengesponserten
Bankreform »schier unmöglich war, einen Betrieb im Land zu finden, der (...)
kostendeckend arbeitete (...).«(32)
Im allgemeinen bedeutet die
Wirtschaftstherapie des IWF für
Makedonien eine Fortführung des Bankrottprogramms, das im ehemaligen Jugoslawien seit
1989 aktiv war. Die Filetstücke der Wirtschaft werden jetzt an der neuen makedonischen
Börse gehandelt, aber diese Verschleuderung vergesellschafteten Eigentums hat zu einem
Wirtschaftskollaps und flächendeckender Arbeitslosigkeit geführt. Und trotz des
Wirtschaftsabbaus und der Zerstörung des Schul- und Gesundheitswesens, die das
Sparprogramm mit sich gebracht hat, erzählte der Finanzminister der Weltöffentlichkeit
stolz, daß »die Weltbank und
der IWF Makedonien in Hinblick
auf die gegenwärtigen Wirtschaftsreformen unter die erfolgreichsten Länder zählen«.
Der Vorsitzende der IWF-Arbeitsgruppe zu Makedonien, Paul Thomsen, ergänzte, daß die »Ergebnisse des Stabilisierungsprogramms
eindrucksvoll« seien und erwähnte besonders lobend die »effektive Lohnpolitik«, die
die Regierung in Skopje in Anwendung bringe.(33)
Der »Wiederaufbau« Bosnien-Herzegowinas
Während das Friedensabkommen schlecht und
recht von den Waffen der NATO aufrechterhalten wird, installiert der Westen in
Bosnien-Herzegowina ein »Wiederaufbauprogramm«, das das Land seiner wirtschaftlichen und
ökonomischen Souveränität vollständig beraubt. Dieses Programm besteht hauptsächlich
darin, Bosnien-Herzegowina als ein geteiltes Land weiterzuentwickeln, das unter der
militärischen Oberhoheit der NATO steht und vom Westen verwaltet wird.
Gestützt auf das Dayton-Abkommen, haben die USA und die Europäische Gemeinschaft
eine vollkoloniale Verwaltung in Bosnien installiert. Als ihr Kopf fungiert der
Hochkommissar (High Representative / HR), Carl Bildt, ein
ehemaliger Premierminister Schwedens und Vertreter der Europäischen Gemeinschaft bei den
Friedensverhandlungen in Bosnien. Der Hochkommissar hat volle Exekutivrechte in allen
zivilen Angelegenheiten. Er kann sogar Regierungsentscheidungen sowohl der bosnischen
Föderation als auch der bosnisch-serbischen Republika Srpska außer Kraft setzen. Der
Hochkommissar handelt in enger Übereinstimmung mit dem IFOR-Generalkommando und
den Agenturen der Geberländer. Eine internationale Polizeitruppe unter der Führung eines
Kommandeurs, der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen bestimmt wird, setzt sich aus
1.700 Polizisten aus fünfzehn Ländern zusammen, von denen die meisten vorher nie auf dem
Balkan gewesen sind. Die »Ausbildung« für diese Polizisten besteht aus einem fünf Tage
langen Trainingsprogramm in Zagreb, bevor sie stationiert werden.
Weil dem Westen die Demokratie nichts gilt,
kann das Parlament Bosniens, das mit der »Verfassung« eingesetzt wurde, völlig zu Recht
als Farce angesehen werden. Hinter der demokratischen Fassade liegt die wahre Macht in den
Händen einer Schattenregierung, die aus dem Hochkommissar und ausländischen Beratern
besteht.
Dazu kommt, daß die Verfassung, die in Dayton ausgearbeitet wurde, die Wirtschaftspolitik völlig den Bretton-Woods-Institutionen und der in London residierenden Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung überantwortet. Artikel VII dieser Verfassung
besagt, daß der Präsident der bosnischen Zentralbank vom IWF
bestimmt wird, und »weder ein Bürger Bosnien-Herzegowinas, noch einer der Nachbarstaaten
(...)« sein darf. Und während der Präsident der Zentralbank vom IWF
ausgewählt wird, darf die Zentralbank keine wirkliche Zentralbank sein. »Im Zeitraum der
ersten sechs Jahre (...) darf sie keine Kredite mit dem Effekt der Geldschöpfung
vergeben. Dadurch fungiert sie nur als einfache Emissionsbank« (Artikel VIII). Und dem
neuen »souveränen« Staat wird eine eigene Währung verweigert, indem er dazu verdammt
wird, Papiergeld nur dann zu schaffen, wenn es voll durch ausländische Devisen gedeckt
ist, was heißt, daß er seine eigenen wirtschaftlichen Ressourcen gar nicht mobilisieren
kann. Wie in den anderen Nachfolgestaaten, wird seine Fähigkeit zur Selbstfinanzierung
(ohne massive Verschuldung im Ausland) von Anfang an sabotiert. Das Management der
bosnischen Wirtschaft ist mit Bedacht unter den Institutionen der Geberländer aufgeteilt
worden: während die Zentralbank unter IWF-Überwachung
steht, kontrolliert die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung die Kommission zur Regulierung der öffentlichen
Wirtschaftsunternehmen, die die Geschicke aller staatlichen Unternehmen lenkt, was die
Energie- und Wasserwirtschaft ebenso einbegreift wie die Post, die Straßenbauverwaltung,
die Eisenbahnen usw. Der Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung bestimmt auch den Vorsitzenden dieser Kommission, die die Restrukturierung des
öffentlichen Sektors überwacht, was in diesem Fall nicht viel mehr heißt, als daß
staatliches und gesellschaftliches Eigentum zum Vorteil von Langezeit-Investitionsfonds
verschleudert wird.
Man kann sich nicht um folgende
grundsätzliche Frage herumdrücken: verdient die bosnische Verfassung, wie sie von den
Staatschefs in Dayton vereinbart wurde, überhaupt ihren Namen? Ein ernster und
gefährlicher Präzedenzfall ist in der Geschichte der internationalen Beziehungen
geschaffen worden: Westliche Kreditoren haben ihre Interessen in eine »Verfassung«
eingebettet, die hastig zu ihrem Vorteil geschrieben wurde, wichtige Posten des bosnischen
Staats werden standardmäßig von Nicht-Bosniern besetzt, die Angestellte von westlichen
Finanzorganisationen sind. Keine verfassunggebende Versammlung, keine Beratungen mit
Bürgerorganisationen in Bosnien-Herzegowina, keine »verfassungsrechtlichen Zusätze«
nach amerikanischem Vorbild, die bürgerliche Grundrechte verbriefen, nichts ... Die
bosnische Regierung schätzt, daß der Wiederaufbau 47 Milliarden US-Dollar kosten wird.
Westliche Geberländer haben 3 Milliarden an Wiederaufbaukrediten versprochen, aber nur
magere 518 Millionen Dollar wurden im Dezember 1995 gewährt, von denen, dem
Dayton-Abkommen gemäß, ein Teil für die zivilen Kosten der IFOR-Truppenstationierung bestimmt ist, und ein anderer Teil für die
Rückzahlung von Schulden an internationale Kreditoren.
In einem schon zum Standard gewordenen
Verfahren sind »neue Kredite« gewährt worden, um alte Schulden zurückzuzahlen. Die
Zentralbank der Niederlande hat zum Beispiel großzügigerweise eine Summe von 37
Millionen Dollar als »Überbrückungskredit« gewährt. Aber der Kredit ist
zweckbestimmt: Er soll Bosnien in die Lage versetzen, alte Schulden an den IWF
zurückzuzahlen. Ansonsten möchte der IWF Bosnien nämlich kein Geld mehr leihen (...) (35)
Und der nächste Schritt in dieser absurden
Spirale: Der angeforderte Kredit vom »Notfonds« des IWF für sogenannte
»Nachkriegsgesellschaften« wird überhaupt nicht in den Wiederaufbau fließen, sondern
dazu dienen, den Kredit aus den Niederlanden zurückzuzahlen, der doch dazu diente, alte
Schulden mit dem IWF zu begleichen! Auf diese Weise schraubt sich die
Schuldenspirale in die Höhe, während überhaupt keine realen finanziellen Ressourcen
für den Wiederaufbau verwendet werden.
Die Ölmultis haben ein Auge auf Bosnien
Die Regierungen und Konzerne des Westens
haben weit mehr Interesse am Zugang zu potentiell strategischen Bodenschätzen als an der
Gewährung von Wiederaufbauhilfen für Bosnien. Dokumente in den Händen der kroatischen
und bosnischen Serben lassen vermuten, daß Kohle- und Ölvorkommen auf der Ostseite des
Dinarischen Gebirges gefunden worden sind, ein Gebiet, das den bosnischen Serben in der
Kraijna durch die letzte Offensive der kroatischen Armee gerade rechtzeitig vor dem
Dayton-Abkommen wieder abgenommen wurde.
Bosnische Regierungsvertreter berichten,
daß der in Chicago ansässige Amoco-Konzern einer von verschiedenen ausländischen Konzernen
war, die daraufhin Probebohrungen in Bosnien veranstalteten. Der Westen ist sehr begierig,
diese Region wirtschaftlich zu nutzen: »Die Weltbank - und die verwickelten
multinationalen Konzerne - geben die betreffenden Untersuchungsergebnisse nur sehr
zögerlich an die Regierungen der kriegführenden Parteien weiter - Stand Aug. 1995
(...)« (36) Darüber hinaus finden sich »beträchtliche
Ölvorkommen in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens, und zwar an der Save, Tuzla
direkt gegenüber.« (37)
Dem Dayton-Abkommen zufolge ist dieses
Gebiet der militärischen Oberhoheit der Amerikaner unterstellt, die ihr Hauptquartier in
Tuzla haben. Die territoriale Aufteilung Bosniens zwischen der bosnisch-kroatischen
Föderation und der serbisch-bosnischen Republika Srpska, die das Dayton-Abkommen
verlangt, enthüllt auf diese Weise ihre strategische Bedeutung. Die 60.000 Mann starken
NATO-Truppen, die angeblich den »Friedensprozeß« sichern, sichern in Wahrheit die
Zerstückelung Bosnien-Herzegowinas zum Vorteil westlicher Wirtschaftsinteressen. Da dem
Land nationale Souveränität vollkommen fehlt, wird seine Zukunft viel eher in
Washington, Bonn und Brüssel gemacht als in Sarajevo (...), und der Prozeß eines
sogenannten »Wiederaufbaus«, der sich auf fortgesetzte Umschuldung stützt, wird sowohl
Bosnien-Herzegowina als auch die anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien auf
dem Niveau der Dritten Welt festhalten. Während lokale Machthaber und die Westmächte die
Filetstücke der ehemaligen jugoslawischen Wirtschaft untereinander aufteilen, dient die
Zersplitterung des Staatsgebiets und die Verewigung sozialer und ethnischer Spaltungen
durch die neugeschaffene Teilungsstruktur als Bollwerk gegen einen vereinten
antikolonialen Widerstand der Jugoslawen.
Zusammenfassung
Die volkswirtschaftlichen Reformen, die
Jugoslawien nach den Prinzipien des Neoliberalismus aufgedrängt wurden, haben
unbestreitbar zur Auflösung des ganzen Landes beigetragen. Aber seit dem Beginn des
Krieges 1991 ist die zentrale Rolle dieser Reformen mit Bedacht von den globalen Medien
übersehen worden. Der »freie Markt« wurde als die Lösung zum Wiederaufbau einer
kriegsgeschüttelten Wirtschaft gepriesen. Während die Medien ein genaues Tagebuch der
Kriegsereignisse und des »Friedensprozesses« lieferten, wurde der soziale und politische
Einfluß der ökonomischen Reformen in Jugoslawien aus unserem Bewußtsein getilgt, und
kann so das Bild von dem, was »wirklich geschah«, nicht vervollständigen.
Kulturelle, ethnische und religiöse
Spannungen werden nach allen Seiten untersucht und auf dogmatische Weise als die einzige
Ursache der Krise dargestellt, während sie doch in Wirklichkeit nur die Folge eines
tiefer liegenden Prozesses der wirtschaftlichen und politischen Auflösung sind. Dieses
»falsche Bewußtsein« hat alle Ebenen der Debatte durchdrungen. Es verdeckt nicht nur
die Wahrheit, es hindert uns auch daran, historische Ereignisse korrekt zu werten. Es
verzerrt die Wahrnehmung der realen Ursachen für soziale Konflikte. Die Einheit,
Solidarität und Identität der Südslawen ist in der Geschichte wohlbegründet, aber
diese Identität ist künstlich manipuliert und zerstört worden.
Der Ruin eines ganzen Wirtschaftssystems,
einschließlich des Ausverkaufs ganzer Industriezweige, die Gewinnung »neuer Märkte«
und das Gerangel um »Einflußsphären« auf dem Balkan sind die wahren Ursachen des
Konflikts.
Im ehemaligen Jugoslawien steht das
Schicksal von Millionen Menschen auf dem Spiel. Die volkswirtschaftlichen Reformen
zerstören ihre Lebensperspektive, nehmen ihnen das Recht auf Arbeit, Ernährung und
Unterkunft, ganz zu schweigen von ihrer Kultur und ihrer nationalen Identität (...). Die
Grenzen wurden willkürlich neu gezogen, das gesamte Justizsystem wurde auf den Kopf
gestellt, vergesellschaftete Unternehmen wurden in den Ruin getrieben, das Finanzund das
Bankensystem wurde zerstört, Sozialprogramme und soziale Institutionen wurden dem
Erdboden gleich gemacht (...).
Im Rückblick ist es nützlich, sich die
sozialen und ökonomischen Errungenschaften Jugoslawiens vor dem Krieg (bis zum Jahr 1980)
zu vergegenwärtigen: Das durchschnittliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug 6,1%
pro Jahr, und zwar über eine Dauer von zwanzig Jahren (1960 - 1980), es gab freie
medizinische Versorgung bei einer Rate von einem Arzt auf 550 Jugoslawen, die
Alphabetisierungsrate lag bei 91%, die durchschnittliche Lebenserwartung bei 72 Jahren
(...).(37)
Die Entwicklung in Jugoslawien spiegelt die
Ergebnisse ähnlicher Restrukturierungsprogramme nicht nur in den Entwicklungsländern,
sondern auch in den USA, Kanada und Westeuropa. »Einschneidende Wirtschaftsmaßnahmen«
seien die Antwort, heißt es; überall wird den Menschen weisgemacht, daß es keine andere
Lösung gibt als die Schließung von Fabriken, die Entlassung von Arbeitern, die Kürzung
der Sozialprogramme (...). In diesem Gesamtkontext sollte die Wirtschaftskrise in
Jugoslawien gesehen werden. Die Reformen in Jugoslawien sind nur die extreme Spielart
eines destruktiven ökonomischen Modells, das der Neoliberalismus Ländern in der ganzen
Welt aufzwingt.
Übersetzung von Marcus Hammerschmitt
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Anmerkungen
(1) Siehe die Schrift von Warren
Zimmermann (ehemal. US-Botschafter in
Jugoslawien): »Der letzte Botschafter, Erinnerungen an den Zusammenbruch Jugoslawiens«,
Foreign Affairs, Vol. 74, Nr. 2, 1995.
(2) Milos Vasic et al., »Krieg gegen Bosnien«, in
Vreme-Nachrichtendienst, Nr. 29, 13. April 1992.
(3) Sean Gervasi, »Deutschland, die USA und die Krise in
Jugoslawien«, in: Covert Action Quarterly, Nr. 43, Winter 1992-93
(4) Ebenda
(5) Dimitrije Boarov, »Eine kurze Untersuchung über
Anti-Inflations-Programme, der Fluch veralteter Programme«, Vreme-Nachrichtendienst, Nr.
29, 13. April 1992
(6) Die Weltbank, »Studie zur industriellen Restruktuierung /
Gesamtwürdigung, Themen und Strategien des Restrukturierungsprozesses«, Washington DC,
Juni 1991, Seiten 10 und 14.
(7) Sean Gervasi, siehe Anm. 3
(8) ebenda
(9) Ralph Schoenman, »Teile und herrsche auf dem Balkan«, The
Organiser, 11. September 1995
(10) Die Weltbank, siehe Anm. 6 . Der einfachheitshalber benutzte Begriff
»Bruttoinlandsprodukt« ist nicht völlig äquivalent mit dem Konzept, nachdem östliche
Ökonomien ihr Nationalprodukt gemessen haben.
(11) Siehe Judit Kiss, »Schuldenmanagement in Osteuropa«, Eastern
European Economics, Mai/Juni 1994, S. 59.
(12) Die Weltbank, siehe Anm. 6.
(13) Ebenda, S. VIII
(14) Ralph Schoenman, s. Anm. 9.
(15) Weitere Details in: Die Weltbank, »Industrielle Restrukturierung in
Jugoslawien«, S. 38.
(16) Ebenda, S. 38.
(17) Ebenda, S. 33.
(18) Ebenda, S. 33.
(19) Ebenda, S. 34. Die ursprünglichen Daten stammen vom jugoslawischen
Bundessekretariat für Industrie und Energie. Von allen erwähnten Firmen machten 222
Bankrott und 26 wurden aufgelöst.
(20) Ebenda, S. 33. Diese Zahlen beinhalten sowohl Bankrotte als auch
Betriebsliquidierungen.
(21) Ebenda, S. 34.
(22) Dimitrije Boarov, s. Anm. 5.
(23) Die Weltbank, »Industrielle Restrukturierung ...«, S. 13, Anhang 1,
S.1.
(24) Die Weltbank hält 20% der jugoslawischen Gesamtarbeiterschaft von 8,9
Millionen Menschen, d.h. ungefähr 1,8 Millionen, für »überflüssig«. Diese Zahl
scheint jedoch noch zu gering, wenn man die Gesamtzahl der »überflüssigen« Arbeiter
von den als »zahlungsunfähig« klassifizierten Betrieben ableitet. Allein im
industriellen Sektor waren im September 1990 1,9 Millionen Arbeiter in solchermaßen
klassifizierten Betrieben beschäftigt, bei einer 2,7 Millionen starken
Industriearbeiterschaft. S. Die Weltbank, »Industrielle Restrukturierung ...«, Anhang 1.
(25) Sean Gervasi, s. Anm. 3.
(26) ebenda, S. 45.
(27) Zimmermann, s. Anm. 1.
(28) Die Zahl bezieht sich auf Makedonien, laut Informationsdienst der
Weltbank am 28. Nov. 1994.
(29) Ralph Schoenman, s. Anm. 9.
(30) »Zagreb vor der Kehrtwende«, The Banker, Januar 1995, S. 38.
(31) Laut Informationsdienst der Weltbank am 28. Nov. 1995.
(32) Aussage des makedonischen Vize-Finanzministers Hari Kostov, in: MAK-News, 18. April 1995.
(33) Makedonischer Informationsdienst MILS-News, 11. April 1995.
(34) Siehe Der Internationale Währungsfond, »Bosnien-Herzegowina wird
Mitglied des IWF«, Pressemitteilung, Nr. 97/70, Washington, 20. Dezember 1995.
(35) Frank Viviano und Kenneth Howe,
»Bosnische Führer behaupten, daß Bosnien über Ölvorkommen verfügt«, The San
Francisco Chronicle, 28. August 1995. Siehe auch Scott Cooper, »Was der Westen in
Ex-Jugoslawien will«, The Organizer, 24. September 1995.
(36) Viviano und Howe, s. Anm. 35.
(37) Die Weltbank, Bericht über die Entwicklung der Weltwirtschaft 1991,
Statistischer Anhang, Tabellen 1 und 2, Washington DC, 1991.