DOKUMENTATION:
EIN FLUGBLATT ZU GERHARD SCHRÖDERS
ERKLÄRUNG ZUR BETEILIGUNG DER BRD AN DER NATO-INTERVENTION
Bei den ersten Demonstrationen der
Friedensbewegung, die sich gegen die Intervention der NATO in Jugoslawien wendeten, wurde
ein Flugblatt verteilt, daß Gerhard Schröders »Erklärung zur aktuellen Lage« vom
24.3.99 in einen anderen Kontext stellte. Nachfolgend dokumentieren wir den Text des
Flugblattes:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
heute abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in der Türkei
begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der
Menschenrechte und eine humanitäre Katastrophe in Kurdistan verhindern.
Die türkischen Militärs und
Ministerpräsident Ecevit führen dort einen erbarmungslosen Krieg. Die türkischen
Sicherheitskräfte haben ihren Terror gegen die kurdische Bevölkerungsmehrheit in
Ostanatolien allen Warnungen zum Trotz verschärft.
Die internationale Staatengemeinschaft
kann der dadurch verursachten menschlichen Tragödie (1) in diesem Teil
Europas/Westasiens nicht tatenlos zusehen. Wir führen keinen Krieg (2),
aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kurdistan auch mit militärischen
Mitteln durchzusetzen.
Die Militäraktion richtet sich nicht
gegen das türkische Volk. Dies möchte ich gerade auch unseren türkischen Mitbürgern
sagen. Wir werden alles tun, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.
Noch vor wenigen Wochen haben
Regierungsvertreter der Türkei anläßlich der Festnahme des Kurdenführers Abdallah
Öcalan selbst minimalste Zugeständnisse an die Kurden abgelehnt. Dies ist um so weniger
verständlich, als die Forderungen der kurdischen Bevölkerung nach Autonomie den Bestand
der Türkei nicht in Frage stellen.
Vielmehr hat die Europäische Union
Ankara den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft und die schrittweise Aufhebung aller
dem im Weg stehenden Beschränkungen für den Fall einer Friedenslösung in Aussicht
gestellt.
Die Antwort Ankaras war der Bruch
geltenden, kulturellen Genozid verbietenden Völkerrechts und die Entsendung weiterer
Truppen nach Kurdistan. Deshalb blieb als letztes Mittel nur die Anwendung von Gewalt.
Dagegen haben die Vertreter der kurdischen Bevölkerung, soweit sie überhaupt bewaffnet
kämpfen, wiederholt einen Waffenstillstand angeboten und einseitig über längere
Perioden eingehalten sowie Friedensgespräche auf der Basis der Autonomie Kurdistans
angeboten und damit ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung vor aller Welt
dokumentiert.
Mit der gemeinsam von allen Bündnispartnern getragenen Aktion verteidigen wir auch unsere
gemeinsamen grundlegenden Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Wir dürfen
nicht zulassen, daß diese Werte, nur zweieinhalb Flugstunden von uns entfernt, mit
Füßen getreten werden.
An dem Einsatz der NATO sind auch
Soldaten der Bundeswehr beteiligt. So haben es Bundesregierung und der deutsche Bundestag
beschlossen - in Übereinstimmung mit dem Willen der großen Mehrheit des Deutschen
Volkes. (3)
Die Bundesregierung hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht, schließlich stehen
zum erstenmal nach Ende des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten im Kampfeinsatz.
Ich rufe von dieser Stelle aus alle
Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, in dieser Stunde zu unseren Soldaten zu stehen. Sie
und ihre Familien sollen wissen, daß wir das Menschenmögliche tun für den Schutz
unserer Soldaten bei diesem schwierigen und gefahrvollen Einsatz. Gleichwohl können wir
Gefahr für Leib und Leben unserer Soldaten nicht ausschließen.
Ich fordere von dieser Stelle aus die türkischen Militärs und Ministerpräsident Ecevit
auf, die Kämpfe in Kurdistan sofort zu beenden. Die NATO und die internationale
Gemeinschaft insgesamt sind unverändert bereit, mit Zustimmung des türkischen Staates
und der verschiedenen Vertreter der Bevölkerung Kurdistans ein Friedensabkommen in die
Tat umzusetzen.
Für eine militärische Absicherung eines notwendigen Waffenstillstandes stehen erste
NATO-Einheiten, darunter 3.000 deutsche Soldaten, bereit. Auf dem Gipfel in Berlin hat
Europa seine Verantwortung für eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent, in die
nunmehr auch unser NATO-Partner Türkei einbezogen werden soll, bekräftigt. Auch mit
Blick auf die schwierige Mission in Kurdistan spricht Europa mit einer Stimme.
An unserer Entschlossenheit, das Morden
in Kurdistan zu beenden, besteht kein Zweifel. Die Führung in Ankara hat es allein in der
Hand, den NATO-Einsatz zu beenden, indem sie der kurdischen Bevölkerung die Hand des
Friedens reicht.
Berlin/Bonn, den 24. März 1999
Der Abdruck dieser Erklärung erfolgt
mit freundlicher Genehmigung der BILD-Zeitung. Wir danken für die Vermittlung des
ehemaligen verantwortlichen Redakteurs des Blattes Bela Anda, jetzt stellvertretender
Sprecher der Regierung Schröder/Fischer.
1) Bundeskanzler Gerhard Schröder weist hier vollkommen zurecht auf die
katastrophalen Auswirkungen des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung hin, der in den
letzten 15 Jahren über 30.000 Menschenleben gefordert hat. Daher wird die Regierung auf
die Lage im Kosovo (bisher 1.000-2.000 Tote) nur mit einiger Verzögerung reagieren
können.
2) Hier erweist sich ein weiteres Mal, welche Vorteile es für unser Land
hat, jetzt wieder einen wirklich gebildeten Mann zum Bundeskanzler zu haben. Der
vorstehende Satz zum Beispiel ist fast unverändert dem bekannten Roman George Orwells
Neunzehnhundertvierundachtzig entnommen: »Krieg ist Frieden, Unwissenheit ist Stärke
......«
3) Eine umfangreiche, über viele Wochen erfolgte Aufklärung auf täglicher
Basis in Presse, Funk und Fernsehen über die Greueltaten der türkischen Armee in
Kurdistan und die grausame Unterdrückung der türkischen wie kurdischen demokratischen
Opposition in der Türkei hat inzwischen in der deutschen Bevölkerung breites Mitgefühl
angesichts der unerträglichen Lage der Kurden geweckt, nachdem die militanten
Demonstrationen von Kurden nach der Entführung des Kurdenführers Öcalan zunächst auf
Unmut und Unverständnis gestoßen waren.